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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 6 (Märzheft 1923)
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Schumann, Wolfgang: Ausdruck: sechster Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0271

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Brüder sein Taschentuch und begann sich auffällig zu schneuzen. Sofort
brachen alle Anwesenden in Gelächter und Verwunderung aus —: er
hatte sich mit überwältigender Deutlichkeit s o geschneuzt, wie sein Vater
diese an sich so unauffällige Handlung zu verrichten Pflegte. Wir alle
„erkannten" den Vater als glänzend, schlagend nachgeahmt; und danach
alle anwesenden Brüder und Vettern, jeden in seiner Art. Es war ein
überaus belustigendes Schauspiel. Anschaulichster Beweis, wie stark in
den unscheinbarsten Verrichtungen sich die Individuen kundgetan und
dem stillen beobachtenden Iüngsten des Kreises, aber auch den an sich
„achtlosen", nicht beobachtenden Anderen, sich eingeprägt hatten. Ob wir
gehen oder stehen, sprechen oder schreiben, uns niederlegen oder aufrecken,
Verhandlungen pflegen oder Liebkosungen verschwenden — immer werden
wir erkennbar darin als „wir", die jeweils einmaligen und einzigen.
Etliche unserer Außerungen sind allgewohnte Wieder-Erkennung-Mittel
in diesem Sinne: Stimme, Gang, besondere eigentümliche Gebärden; an
ihnen unterscheiden wir einander. Andere, die sich in Sichtbarem nieder-
schlagen, erweisen sich als besonders geeignet, uns nicht nur schlechthin
„wiederzuerkennen", sondern uns auch in einzelnen tieferen und wei-
teren, ja vielleicht rn allen wesentlichen Einzelzügen unseres Ichs zu „er-
kennen", unsern besondern Persönlichkeit-Befund, unsern „Charakter" daran
„abzulesen": Handschrift, Dynamik und Rhythmik unseres Sprechens, Ver-
halten beim Spiel u. a. Mcht jedermann vermag ein solches Ablesen;
doch scheint es prinzipiell möglich, obwohl das letzte Geheimnis der
Persönlichkeit so vielleicht nicht erschlossen wird. Genug, Schrift,
Sprechrhythmus u. a. „drücken" uns besonders deutlich aus. Cntscheidend
bleibt, daß wir uns stets ausdrücken. Man kann sagen: Leben ist ein
Sich-Ausdrücken. Es ist mehr als dieses, gewiß; es ist beispielsweise ein
Sich-Nähren, Sich-Fortpflanzen, Werkschaffen, Genießen, Schlafen, Ar-
beiten usw.; aber indem wir uns nähren, Werke schaffen, genießen, drücken
wir eben dadurch, zugleich damit, uns aus. Ich trage darum Bedenken, diese
Tatsache einem besonderen „Triebe" zuzuordnen, sie im Ganzen als Er-
gebnis eines „Ausdrucktriebes" zu bezeichnen; sie scheint mir mehr eine

— unentrinnbare — „Begleiterscheinung" des Lebens, eine kaum noch
triebmäßige, vorwiegend automatische Färbung und Prägung der Trieb-
handlungen als Folge unserer Ich-Heit. Doch mag man — widerlegbar
wäre es nicht, da in den „letzten" Gründen des Seelischen der unter-
scheidende Blick nahezu versagt und unterscheidende Worte wenig bedeu-
ten — sie immerhin auf „Ausdrucktrieb" zurückführen.

^edenfalls aber muß um guter Verständigung willen dieses allgemeine,
O vorwiegend automatisch sich kundgebende Ausdruckbedürfnis unterschie-
den werden von einer Gruppe von besonderen Triebhandlungen, deren
eigentlicher Sinn „Ausdruck" zu sein scheint, tzandlungen, die uns
dadurch befriedigen und sich nahezu darin erschöpfen, daß sie „uns
ausdrücken". Eine Spannung löst sich, eine Aberladung unseres Inneren

— wenn dieses Bild nicht zu mechanisch ist — entlädt sich in ihnen. In
den mannigfachsten Formen, auf die mannigfaltigsten Arten drücken wir
unsere Seele so entlastend aus. Wir lallen, schreien, brüllen, tänzeln,
tanzen, singen, kritzeln und zeichnen, spielen mit Finger, tzand, Arm,
mit dem ganzen Körper. Wir tun es, ohne Zuschauer oder Zuhörer
zu haben oder uns zu wünschen. Rein gibt der Trieb sich in solchem „un-
verbindlichen" — uns keinem Menschen und mit keiner Aufgabe verbinden-

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