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Kapitell
ganz unabhängig von den Quellen - die Frage nach dem verwendeten Gesell-
schaftsmodell und der damit verbundenen modernen Terminologie aufgeworfen
werden muß, ist gerade die permanente Rückkopplung zu zeitgenössischen Be-
griffen für ein solches Vorhaben eher hinderlich.
Oie gesamte ältere Forschung war noch ohne jede weitere Debatte davon aus-
gegangen, daß der Begriff „Stand" in einem rechtlichen Sinn die einzig angemes-
sene gesellschaftliche Kategorie zur Erforschung der mittelalterlichen Gesellschaft
sei. Dies ergab sich - auf den ersten Blick - ja aus den Leges, die für die zentralen
Quellen gehalten worden waren. Diskutiert werden konnte in dieser Perspektive
die Frage, ob und, wenn ja, wann denn der mittelalterliche Adel als ein Stand im
Rechtssinn bezeichnet werden kanrVV Von „Klassen" sprach man eher selten, da
diese Terminologie in der deutschen Forschung als Ausdruck einer nicht zeitge-
nössischen Gesellschaftstheorie betrachtet worden ist; häufig ist dieser Begriff
ohnehin nicht näher definiert worden. Der Begriff „Kaste" ist generell nur als Stil-
mittel verwendet worden, um die Existenz scharfer gesellschaftlicher Trennlinien
zu betonen^.
Der neue Zugang zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte brachte mehrere
Prämissen mit sich, die sich für eine gesamtgesellschaftliche Analyse nicht eben als
förderlich erwiesen. Die von Otto Brunner vor dem Hintergrund seiner Rezeption
des Verfassungsbegriffs von Carl Schmitt mit Nachdruck hervorgehobene Ansicht,
man könne wegen der Gleichartigkeit königlicher und adliger Herrschaftsrechte
nicht zwischen Staat und Gesellschaft analytisch trennen, ist bis heute konsensfä-
hig. Dies führte dazu, daß man nicht von einer mittelalterlichen „Gesellschaft" als
Untersuchungsgegenstand sprechen zu können meinte, sondern „konkrete Ord-
nungen" als Objekte der Analyse betrachtete^. Josef Fleckenstein begann in den
siebziger Jahren seine Darstellung von Grundlagen und Beginn der deutschen
Geschichte demgemäß mit einem Überblick über die „sozialen Grundformen"
Sippe, Haus, Gefolgschaft und Stammt Ähnlich verfuhren Rolf Sprandel in sei-
nem Überblick über die mittelalterliche Gesellschaft und Reinhard Schneider in
seinem noch immer einschlägigen Handbuch über die Geschichte des Franken-
reichs5°F
Erst in jüngerer Zeit hat Algazi auf die Konsequenzen dieser Verfahrensweise
hingewiesen: „Alle übergreifenden sozialen Kategorien, ob Stände oder Klassen,
werden bei Brunner in 'konkrete Ordnungen' aufgelöst"^. Wolfgang Schild hat
497 Zur Vielschichtigkeit des mittelalterlichen Standesbegriffs vgl. SlAHLEDER, Ständebegriff.
498 Vgl. z.B. FORST-BATTAGLIA, Vom Herrenstande, Bd. 1, S. 20; DUBY, Ordnungen, S. 426.
499 Vgl. klassisch O. BRUNNER, Verfassungsbegriff, S. 14; DERS., Land, S. 163f.
500 FLECKENSTEIN, Grundlagen, S. 17.
501 Vgl. SPRANDEL, Gesellschaft, S. 30-73; R. SCHNEIDER, Frankenreich, S. 121.
502 Vgl. ALGAZI, Brunner, S. 173, allgemein S. 171ff.; vgl. auch DERS., Herrengewalt, S. 110-115. Zu den
„belasteten" Begriffen „Ordnung" und „inneres Gefüge" vgl. auch BORGOLTE, Sozialgeschichte, S.
64f.
Kapitell
ganz unabhängig von den Quellen - die Frage nach dem verwendeten Gesell-
schaftsmodell und der damit verbundenen modernen Terminologie aufgeworfen
werden muß, ist gerade die permanente Rückkopplung zu zeitgenössischen Be-
griffen für ein solches Vorhaben eher hinderlich.
Oie gesamte ältere Forschung war noch ohne jede weitere Debatte davon aus-
gegangen, daß der Begriff „Stand" in einem rechtlichen Sinn die einzig angemes-
sene gesellschaftliche Kategorie zur Erforschung der mittelalterlichen Gesellschaft
sei. Dies ergab sich - auf den ersten Blick - ja aus den Leges, die für die zentralen
Quellen gehalten worden waren. Diskutiert werden konnte in dieser Perspektive
die Frage, ob und, wenn ja, wann denn der mittelalterliche Adel als ein Stand im
Rechtssinn bezeichnet werden kanrVV Von „Klassen" sprach man eher selten, da
diese Terminologie in der deutschen Forschung als Ausdruck einer nicht zeitge-
nössischen Gesellschaftstheorie betrachtet worden ist; häufig ist dieser Begriff
ohnehin nicht näher definiert worden. Der Begriff „Kaste" ist generell nur als Stil-
mittel verwendet worden, um die Existenz scharfer gesellschaftlicher Trennlinien
zu betonen^.
Der neue Zugang zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte brachte mehrere
Prämissen mit sich, die sich für eine gesamtgesellschaftliche Analyse nicht eben als
förderlich erwiesen. Die von Otto Brunner vor dem Hintergrund seiner Rezeption
des Verfassungsbegriffs von Carl Schmitt mit Nachdruck hervorgehobene Ansicht,
man könne wegen der Gleichartigkeit königlicher und adliger Herrschaftsrechte
nicht zwischen Staat und Gesellschaft analytisch trennen, ist bis heute konsensfä-
hig. Dies führte dazu, daß man nicht von einer mittelalterlichen „Gesellschaft" als
Untersuchungsgegenstand sprechen zu können meinte, sondern „konkrete Ord-
nungen" als Objekte der Analyse betrachtete^. Josef Fleckenstein begann in den
siebziger Jahren seine Darstellung von Grundlagen und Beginn der deutschen
Geschichte demgemäß mit einem Überblick über die „sozialen Grundformen"
Sippe, Haus, Gefolgschaft und Stammt Ähnlich verfuhren Rolf Sprandel in sei-
nem Überblick über die mittelalterliche Gesellschaft und Reinhard Schneider in
seinem noch immer einschlägigen Handbuch über die Geschichte des Franken-
reichs5°F
Erst in jüngerer Zeit hat Algazi auf die Konsequenzen dieser Verfahrensweise
hingewiesen: „Alle übergreifenden sozialen Kategorien, ob Stände oder Klassen,
werden bei Brunner in 'konkrete Ordnungen' aufgelöst"^. Wolfgang Schild hat
497 Zur Vielschichtigkeit des mittelalterlichen Standesbegriffs vgl. SlAHLEDER, Ständebegriff.
498 Vgl. z.B. FORST-BATTAGLIA, Vom Herrenstande, Bd. 1, S. 20; DUBY, Ordnungen, S. 426.
499 Vgl. klassisch O. BRUNNER, Verfassungsbegriff, S. 14; DERS., Land, S. 163f.
500 FLECKENSTEIN, Grundlagen, S. 17.
501 Vgl. SPRANDEL, Gesellschaft, S. 30-73; R. SCHNEIDER, Frankenreich, S. 121.
502 Vgl. ALGAZI, Brunner, S. 173, allgemein S. 171ff.; vgl. auch DERS., Herrengewalt, S. 110-115. Zu den
„belasteten" Begriffen „Ordnung" und „inneres Gefüge" vgl. auch BORGOLTE, Sozialgeschichte, S.
64f.