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Hechberger, Werner; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter: zur Anatomie eines Forschungsproblems — Mittelalter-Forschungen, Band 17: Ostfildern, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.34731#0108

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104

Kapitel 1

diametral entgegengesetzt^. Auch Aaron Gurjewitsch hat Verschwendungssucht
und Freigiebigkeit ais zeichenhaft verstanden^.
In dieser Sicht erscheint Adel als eine lange währende mentale Konstruktion
mit sozialen Folgen. Gerhard Dilcher sieht demgemäß im alteuropäischen Adel
eine über tausend Jahre existierende SozialfornVA Besitz-, Rechts- und Herr-
schaftspositionen basierten nicht auf einem Privileg, sondern seien „autogen".
Dilcher hob die Elastizität des Adels bei Reaktionen auf gesellschaftliche Wand-
lungen hervor. Das heutige Bild des Frühmittelalters sei das einer Adelsgesell-
schaft, die „aufbauend", nicht „zerstörend" gewirkt habe. Die Wurzeln von Adel
als Verhaltensmuster hegen in der Antike.
Diese Perspektive hat mehrere Folgen, derer man sich bewußt sein sollte. Zum
einen ist das Gesamtbild in seinen Grundzügen statisch. Wandel, etwa in Form
einer Veränderung der rechtlichen Stellung oder überhaupt einer rechtlichen Ab-
grenzung, wird nicht erfaßt und erscheint als wenig bedeutsam. Deutlich wird
dies vor allem an der ebenso schlichten wie bemerkenswerten Tatsache, daß die
zentralen Definitionskriterien dieser Betrachtungsweise heute nach wie vor erfüllt
werden. Der Soziologe Roland Girtler hat nach einer Untersuchung der Lebens-
form heutiger Adliger die Bedeutung von Abstammung, Lebensstil und Ritualen
hervorgehoben und bemerkt, daß der Adel der Gegenwart immer noch als Stand
im Sinne von Max Weber verstanden werden kamVA
Definiert man Adel als mentales Phänomen, so trifft man die Sicht der Zeitge-
nossen wohl eher als mit anderen Verfahrensweisen, weil man eben nicht zuletzt
mit zeitgenössischen Kriterien operiert. Probleme, die die Forschung schon seit
Möser und Eichhorn beschäftigten, werden in dieser Perspektive allerdings nicht
erfaßt. So bleibt etwa die Frage nach der materiellen Basis der adligen Stellung
ausgeblendet. Die Feststellung, daß die Zeitgenossen Adel keineswegs primär
durch Besitz definierten, führte dazu, daß sie aus dem Blickfeld verschwand.
Auch eine andere der für die ältere Forschung zentralen Fragen bleibt nicht nur
unbeantwortet, sondern wird sogar in den Flintergrund verwiesen: Wie soll man
„den Adel" nach unten abgrenzen? Diese Schwierigkeit ist zwangsläufig die Folge
des Ansatzes: Gerade die Zeitgenossen hätten darauf wohl kaum eine schlüssige
Antwort geben können. Man reproduziert demnach ein zeitgenössisches Problem:
Als sich der Adel als soziale Kategorie im späten Mittelalter zu festigen begann,
wurde gerade diese Frage für die Zeitgenossen überhaupt erst zu einem Problem,
das letztlich nicht gelöst werden konnte.

563 Vgl. ELIAS, Gesellschaft, S. 102-105.
564 Vgl. GURJEWITSCH, Weltbild, S. 280-288.
565 Vgl. DILCHER, Adel, S. 57.
566 Vgl. GiRTLER, Adel.
 
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