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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Grohmann, Will: Neue schöpferische Kräfte in der europäischen Malerei der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0123

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Zuerst die deutsche „Brücke" (1902), zu deren geistigem Bezirk Nolde gehört.
Sie ist der Durchbruch, dem die geringste internationale Auswirkung be-
schieden war, eine weit geringere als den „Fauves", dem französischen Ana-
logem, die mit Matisse Europa und Amerika eroberten. Wir haben aber allen
Grund, uns im Urteil nicht beirren zu lassen, denn in Nolde, Kirchner, Schmidt-
Rottluff, Heckel und Otto Müller erfolgte, unabhängig von dem älteren
E. Münch, der Durchbruch zu den Quellen der deutschen Kunst, der Imagina-
tion. Instinkt plus entsprechende Formerfindung schaffen das neue visionäre
Bild. Ueberall, wo die geistige und formale Disziplin fehlt, entsteht Expres-
sionismus, wie überhaupt alle Ismen auf diesem Wege entstanden sind. Das
Entscheidende war das Ineinander von geschauter und vorgestellter Wirklich-
keit, die Verzahnung imitativer und erfundener Formen, die Wechselwirkung
von Gesamtvorstellung und Einzelheit, die Spannung zwischen Bildgestalt und
Bildidee. Dies mit persönlich ganz verschiedener Auswirkung bei den Führern:
bei Nolde bleibt die Vision das kompositorische Rückgrat, bei Kirchner
steigern sich Vorstellung und Hieroglyphe zur symbolischen Gestalt, bei
Schmidt-Rottluff grenzt die hohe Temperatur der Formen und die Reduktion
des Gegenständlichen an die Abstraktion, bei Otto Müller begleichen sich
Idee und Form in fast griechischer Weise. Und die geschichtliche Wirkung? Es
ist heute kein Zweifel, daß die gewaltsame Unterbrechung von 1914 die
Wirkung gerade dieses Impetus, der damals einen ersten Höhepunkt erreicht
hat, schwächte. Im Krieg entstand für die Düngeren, die vorher ihre Aufgabe
noch nicht erkannt hatten, eine andere Einstellung zum Leben. Heute finden
einige zu diesem Ausgang wieder zurück, W. Scholz (* 1898) und Chr. Drexel, in
der Schweiz P. Camenisch (*1893) und Otto Staiger (*1895), [Albert Müller (*1897)
und H. Scherer (* 1893) sind bereits tot], in Holland I Wiegers. Vorher hatten
O. Herbig (* 1889), M. Kaus (* 1889), W. Gothein (* 1890), W. Gram-
mate (* 1891) und der frühe Chr. Crodel (* 1894) an die Brücke angeknüpft.
Die Synthese der großen Anreger blieb jedoch bei keinem erhalten. Die
Aelteren überbetonten die Vorstellung, die Düngeren die Struktur. Eine selb-
ständige Fortführung des Ganzen geschah nicht, nur eine solche von Teil-
erkenntnissen. Man baute einzelne Schaffensperioden der Anreger aus,
Gothein das Schnittige des Berliner Kirchner, die Schweizer das farbige Auf-
bausystem des älteren Kirchner, Kaus und Herbig den Heckel der Nachkriegs-
zeit, Huth und Ottolange den späteren Schmidt-Rottluff, Scholz den Maskenstil
Noldes, Xaver Fuhr das Raumgefühl dieser Meister u. s. f. Man richtete sich im
gewonnenen Terrain ein, trug den Vorstoß ein Stück weiter. Bei den jungen
Schweizern verbinden sich Anregungen Kirchners mit solchen du Fauves, und
es kommt dabei zu einem neuen Antrieb (H. Stocker, M. Hunziker, A. Schnyder,
E. Coghuf, * um 1900). Bei den übrigen wie K. Hindenlang (* 1894), M. Sulzbacher
(* 1904), H. R. Schieß (* 1904) und Finkli (* 1905) ist eine Wendung zum Surrealis-
mus erfolgt.

Umfassender ist die Nachfolge bei den Künstlern des „Blauen Reiters" (1912),
Kandinski, Marc, A. Macke, zu denen später Klee, Jawlensky und Feiniger stie-
ßen. Deshalb sollen von hier an die Auswirkungen zusammenfassend dargestellt
werden. Wesentliches soll in diesem Falle auf intuitivem Wege, d. h. durch intel-
lektuelle Einfühlung in das innere des Gegenstandes, und freie, der Intuition sich
anschmiegende Formen ausgedrückt werden. Raum und Zeit gehen ineinander
über, Kausalität weicht der schöpferischen Entwicklung. Bergsons Evolution

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