Bau- und Wohnungswesen in Rußland
Von Hans Schmidt, Basel, Mitarbeiter der Gruppe May, Moskau
Vorbemerkung der Schriftleitung: Wir entnehmen die
nachfolgenden Ausführungen dem Sammelband ,, D i e Rote Wirt-
schaft. Probleme und Tatsache n." Herausgegeben von
Dr. Gerhard Dobbert, der in wenigen Wochen im Ost-Europa-
Verlag, Königsberg i. Pr. und Berlin erscheinen wird. Wir haben aus dem
sehr sorgfältigen und gut dokumentierten Bericht Schmidts einige Stellen
weggelassen, welche Fragen behandeln, die schon in früheren Heften
unserer Zeitschrift berührt worden sind. Die Zwischentitel stammen
von uns. Gtr.
1. Wohnhäuser und Wohnniveau
Für das Niveau des Bauwesens in einem Lande sind bestimmend das
Niveau seiner Produktionskräfte, seiner Arbeitermassen und ihres Bil-
dungsgrades. Für das alte Rußland drückt sich dieses Niveau am stärk-
sten in der Tatsache aus, daß 82 Prozent der Gesamtbevölkerung auf
dem Dorfe lebten und nur 18 Prozent in den Städten. (Für Deutschland
und England ist das Verhältnis nahezu umgekehrt.) „Auf dem Dorfe"
bedeutete für das alte Rußland vollkommene Rückständigkeit. Technisch
bedeutete es das Vorherrschen des Holzhausbaues in der primitiven
(wenn auch in ihrer Art einwandfreien) Form des handwerklich herge-
stellten Blockhauses, das vom Wandbalken bis zum Fensterrahmen aus-
schließlich mit Waldsäge und Axt bearbeitet wurde. Nicht nur die Dörfer,
sondern der größte Teil der Provinzstädte sind auf diese Weise gebaut.
Moskau besteht heute noch zu 86 Prozent aus Holzbauten. Was als echter
Steinbau erscheint, ist vielfach derselbe Blockbau mit äußerer Putz-
architektur. Allerdings wurden in Leningrad und Moskau nicht nur öffent-
liche Bauten, sondern auch große, bis zu 12 Stockwerke hohe Miethäuser
aus sehr gutem Material und mit entsprechender Technik der Ausführung
gebaut. Aber das waren Ausnahmen.
Das Dorf lieferte in der Form von Saisonarbeitern die Bauhandwerker, die
auf großen Arbeitsmärkten von Unternehmern angeworben wurden und
die mit ihrer Schwerfälligkeit und Rückständigkeit dem ganzen Bauwesen
seinen Stempel aufdrückten. Ein großer Teil der Einzelteile für den Haus-
bau (Beschläge) war handwerkliche Heimarbeit des Dorfes. Eine eigent-
liche Bauindustrie für die Herstellung aller dieser Einzelteile gab es in
dem industriell schwach entwickelten alten Rußland sozusagen nicht. Die
Ausbildung der leitenden Techniker, Ingenieure und Architekten litt
ebenfalls unter den besonderen Verhältnissen des halbfeudalen, zaristi-
schen Regimes. Sie mußten ihre Ausbildung zum überwiegenden Teil
an ausländischen Hochschulen suchen.
Bezeichnend für die schwache Entwicklung des alten russischen Bau-
wesens und für seine geringen industriellen Hilfsmittel ist auch die Rück-
ständigkeit seiner Kommunalwirtschaft. Nur wenige große Städte be-
saßen eine Straßenbahn; Kanalisation, Wasserleitung und Straßenpflaste-
rung gab es nur für die eigentlichen Luxusviertel. In Moskau sind heute
noch fast 40 Prozent aller Straßen ohne Kanalisation und große Viertel
ohne Hauswasserleitung.....
Mit dem Sieg der Oktoberrevolution wurde der größere Teil des städti-
schen privaten Hausbesitzes enteignet und den Stadtsowjets überwiesen.
Der auf diese Weise gewonnene Wohnfonds wurde zu damals noch ziem-
lich reichlichen Normen neu verteilt, und die Arbeiter konnten aus ihren
Kellerwohnungen und Vorstadthütten ausgesiedelt werden. Auf diese
Weise wurden z. B. in Moskau über eine halbe Million Arbeiter in dem
vorher fast ausschließlich von der Bourgeoisie bewohnten Stadtzentrum
angesiedelt. Heute wohnen innerhalb des zweiten Ringes der Stadt
Moskau 40 bis 50 Prozent Arbeiter gegenüber 3 Prozent vor der Re-
volution. Bis zum Jahre 1927/28 waren von 160 Millionen Quadratmeter
Wohnfläche in den Städten Rußlands etwa 74 Millionen Quadratmeter
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M. 1 Ginsburg,Hassenpflug und A. L i s s a g o r
Projekt für den Sowjetpalast in Moskau
Projet pour le nouveau Palais des Sowjets ä Moscou
Project for the new Palace of the Sowjets at Moscou
nationalisiert. Daß nicht die gesamte Wohnfläche nationalisiert wurde,
erklärt sich aus dem großen Anteil von kleinen hölzernen Wohnbauten
in den russischen Städten, die man entweder den Privatbesitzern zu
Eigentum überließ oder in Pacht gab.
Der auf diese Weise nationalisierte Wohnungsfonds wurde entweder der
Wohnungsabteilung der Kommunalwirtschaft oder besonderen „Haus-
trusts" oder schließlich eigens gebildeten Wohnpachtgenossenschaften
(Shakt) zur Verwaltung übergeben. Nachdem in den letzten Jahren mit
den allzu großen Häusertrusts von bis zu 25 Häusern, also bei dem Um-
fang der russischen Miethäuser von mehreren tausend Bewohnern, keine
guten Erfahrungen gemacht wurden, geht man heute darauf aus, die
kleinen Wohngenossenschaften zu fördern, so daß womöglich jedes Haus
seine eigene Genossenschaft bildet und aus seinem eigenen Budget, also
aus den Mieteingängen, die Beträge für Pacht, Amortisation und Instand-
setzung aufbringt.
2. Finanzierung des Wohnungsbaus
Abgesehen von den bedeutenden Aufwendungen für den Bau ganz neuer
Siedlungen und Städte, die aus dem Staatsbudget für die betreffende
Industrie ausgeschieden werden, stehen dem Wohnungsbau eine ganze
Reihe von Finanzquellen zur Verfügung. Die örtlichen Vollzugsräte (Stadt-
sowjets) und Sowjetrepubliken speisen ihre Aufwendungen für den Woh-
nungsbau aus Einkommensteilen ihrer kommunalen Unternehmungen, aus
Amortisationseingängen des kommunalisierten Hausbesitzes (Alt-
wohnungen), aus Kultursteuern und aus Abzügen von den sozialen Ver-
sicherungsfonds der Arbeiter und Angestellten. Die großen Unter-
nehmungen (Industrien und Transportanstalten) sind verpflichtet, durch
jährliche Abzüge von 10 Prozent ihres Reingewinnes einen besonderen
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Von Hans Schmidt, Basel, Mitarbeiter der Gruppe May, Moskau
Vorbemerkung der Schriftleitung: Wir entnehmen die
nachfolgenden Ausführungen dem Sammelband ,, D i e Rote Wirt-
schaft. Probleme und Tatsache n." Herausgegeben von
Dr. Gerhard Dobbert, der in wenigen Wochen im Ost-Europa-
Verlag, Königsberg i. Pr. und Berlin erscheinen wird. Wir haben aus dem
sehr sorgfältigen und gut dokumentierten Bericht Schmidts einige Stellen
weggelassen, welche Fragen behandeln, die schon in früheren Heften
unserer Zeitschrift berührt worden sind. Die Zwischentitel stammen
von uns. Gtr.
1. Wohnhäuser und Wohnniveau
Für das Niveau des Bauwesens in einem Lande sind bestimmend das
Niveau seiner Produktionskräfte, seiner Arbeitermassen und ihres Bil-
dungsgrades. Für das alte Rußland drückt sich dieses Niveau am stärk-
sten in der Tatsache aus, daß 82 Prozent der Gesamtbevölkerung auf
dem Dorfe lebten und nur 18 Prozent in den Städten. (Für Deutschland
und England ist das Verhältnis nahezu umgekehrt.) „Auf dem Dorfe"
bedeutete für das alte Rußland vollkommene Rückständigkeit. Technisch
bedeutete es das Vorherrschen des Holzhausbaues in der primitiven
(wenn auch in ihrer Art einwandfreien) Form des handwerklich herge-
stellten Blockhauses, das vom Wandbalken bis zum Fensterrahmen aus-
schließlich mit Waldsäge und Axt bearbeitet wurde. Nicht nur die Dörfer,
sondern der größte Teil der Provinzstädte sind auf diese Weise gebaut.
Moskau besteht heute noch zu 86 Prozent aus Holzbauten. Was als echter
Steinbau erscheint, ist vielfach derselbe Blockbau mit äußerer Putz-
architektur. Allerdings wurden in Leningrad und Moskau nicht nur öffent-
liche Bauten, sondern auch große, bis zu 12 Stockwerke hohe Miethäuser
aus sehr gutem Material und mit entsprechender Technik der Ausführung
gebaut. Aber das waren Ausnahmen.
Das Dorf lieferte in der Form von Saisonarbeitern die Bauhandwerker, die
auf großen Arbeitsmärkten von Unternehmern angeworben wurden und
die mit ihrer Schwerfälligkeit und Rückständigkeit dem ganzen Bauwesen
seinen Stempel aufdrückten. Ein großer Teil der Einzelteile für den Haus-
bau (Beschläge) war handwerkliche Heimarbeit des Dorfes. Eine eigent-
liche Bauindustrie für die Herstellung aller dieser Einzelteile gab es in
dem industriell schwach entwickelten alten Rußland sozusagen nicht. Die
Ausbildung der leitenden Techniker, Ingenieure und Architekten litt
ebenfalls unter den besonderen Verhältnissen des halbfeudalen, zaristi-
schen Regimes. Sie mußten ihre Ausbildung zum überwiegenden Teil
an ausländischen Hochschulen suchen.
Bezeichnend für die schwache Entwicklung des alten russischen Bau-
wesens und für seine geringen industriellen Hilfsmittel ist auch die Rück-
ständigkeit seiner Kommunalwirtschaft. Nur wenige große Städte be-
saßen eine Straßenbahn; Kanalisation, Wasserleitung und Straßenpflaste-
rung gab es nur für die eigentlichen Luxusviertel. In Moskau sind heute
noch fast 40 Prozent aller Straßen ohne Kanalisation und große Viertel
ohne Hauswasserleitung.....
Mit dem Sieg der Oktoberrevolution wurde der größere Teil des städti-
schen privaten Hausbesitzes enteignet und den Stadtsowjets überwiesen.
Der auf diese Weise gewonnene Wohnfonds wurde zu damals noch ziem-
lich reichlichen Normen neu verteilt, und die Arbeiter konnten aus ihren
Kellerwohnungen und Vorstadthütten ausgesiedelt werden. Auf diese
Weise wurden z. B. in Moskau über eine halbe Million Arbeiter in dem
vorher fast ausschließlich von der Bourgeoisie bewohnten Stadtzentrum
angesiedelt. Heute wohnen innerhalb des zweiten Ringes der Stadt
Moskau 40 bis 50 Prozent Arbeiter gegenüber 3 Prozent vor der Re-
volution. Bis zum Jahre 1927/28 waren von 160 Millionen Quadratmeter
Wohnfläche in den Städten Rußlands etwa 74 Millionen Quadratmeter
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M. 1 Ginsburg,Hassenpflug und A. L i s s a g o r
Projekt für den Sowjetpalast in Moskau
Projet pour le nouveau Palais des Sowjets ä Moscou
Project for the new Palace of the Sowjets at Moscou
nationalisiert. Daß nicht die gesamte Wohnfläche nationalisiert wurde,
erklärt sich aus dem großen Anteil von kleinen hölzernen Wohnbauten
in den russischen Städten, die man entweder den Privatbesitzern zu
Eigentum überließ oder in Pacht gab.
Der auf diese Weise nationalisierte Wohnungsfonds wurde entweder der
Wohnungsabteilung der Kommunalwirtschaft oder besonderen „Haus-
trusts" oder schließlich eigens gebildeten Wohnpachtgenossenschaften
(Shakt) zur Verwaltung übergeben. Nachdem in den letzten Jahren mit
den allzu großen Häusertrusts von bis zu 25 Häusern, also bei dem Um-
fang der russischen Miethäuser von mehreren tausend Bewohnern, keine
guten Erfahrungen gemacht wurden, geht man heute darauf aus, die
kleinen Wohngenossenschaften zu fördern, so daß womöglich jedes Haus
seine eigene Genossenschaft bildet und aus seinem eigenen Budget, also
aus den Mieteingängen, die Beträge für Pacht, Amortisation und Instand-
setzung aufbringt.
2. Finanzierung des Wohnungsbaus
Abgesehen von den bedeutenden Aufwendungen für den Bau ganz neuer
Siedlungen und Städte, die aus dem Staatsbudget für die betreffende
Industrie ausgeschieden werden, stehen dem Wohnungsbau eine ganze
Reihe von Finanzquellen zur Verfügung. Die örtlichen Vollzugsräte (Stadt-
sowjets) und Sowjetrepubliken speisen ihre Aufwendungen für den Woh-
nungsbau aus Einkommensteilen ihrer kommunalen Unternehmungen, aus
Amortisationseingängen des kommunalisierten Hausbesitzes (Alt-
wohnungen), aus Kultursteuern und aus Abzügen von den sozialen Ver-
sicherungsfonds der Arbeiter und Angestellten. Die großen Unter-
nehmungen (Industrien und Transportanstalten) sind verpflichtet, durch
jährliche Abzüge von 10 Prozent ihres Reingewinnes einen besonderen
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