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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Schmidt, Hans: Diskussion um Rußland: der Sowjetpalast
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0175

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Bauen voraufgegangen sind, kaum einen Anteil genommen hat. Dieses
alte Rußland besaß weder den gehobenen Arbeiterstand noch das gut-
gestellte mittlere Bürgertum des Westens. Zwischen der Lebensweise des
Arbeiters und derjenigen der Kaufleute und Beamten klaffte ein Ab-
grund. Weder die Arbeiterwohnung noch die Wohnung des Mittel-
standes bildete ein Problem, an dem sich die russischen Architekten
in der Weise ihrer westlichen Kollegen hätten schulen können. Der
Sieg der Oktoberrevolution brachte eine Schar junger, für die Revo-
lution eintretender Künstler nach vorne, die den Kampf mit der alten
Architektengeneration aufnahm und dem neuen Bauen zu einem schein-
bar vollkommenen Sieg verhalf. Zu einer Zeit, wo in Sowjetrußland noch
verhältnismäßig wenig gebaut werden konnte, gab diese junge, tech-
nisch nur sehr wenig erfahrene Generation ihre ganzen Kräfte in phan-
tastischen Projekten aus und suchte in vielen Fragen die reale Situation
in der revolutionären Entwicklung um Jahrzehnte zu überspringen. Der
wirklich vorbereitete Boden fehlte, sowohl in der Arbeit der Architekten
selbst als auch in der Wirkung auf die Oeffentlichkeit. Erst die Riesen-
aufgabe des Fünfjahresplans, mit dem für Sowjetrußland eine Periode
der größten Anspannung und der vollkommenen Umstellung beginnt,
bringt die wahre Lage zum Vorschein. Der Fünfjahresplan hat dem sozia-
listischen Staat statt schöner Träume eine ganz konkrete Aufgabe ge-
stellt. Utopien gelten immer weniger im heutigen Sowjetrußland. Der
erfahrene Techniker, der geschulte Architekt hat das erste Wort. In-
zwischen hat sich eine ganze Reihe früherer Architekten der Sowjet-
macht zur Verfügung gestellt. Es ist einleuchtend, daß sie heute die
Bresche ausnutzen, die das neue Bauen in Sowjetrußland gelassen hat,
die Bresche der mangelnden technischen und kulturellen Vorbereitung.
Das neue Bauen ist unterlegen.

Diese Niederlage wird verschärft durch einen Umstand, in dem sich ein
wichtiger Gegensatz zwischen dem Westen und der Sowjetunion aus-
drückt. Im Westen gilt auch auf dem Gebiete der Kunst bis zu einem
gewissen Grade das Prinzip der freien Konkurrenz. Sowjetrußland for-
dert von einer Idee die Einordnung in die Generallinie der Revolution.
Das neue Bauen hat diese Möglichkeit heute verspielt. Damit hat es
nicht nur die Masse, sondern auch die Jugend gegen sich. Schlimmer
noch, es stößt heute auf eine geschlossene ideologische Front.
Von dieser ideologischen Seite werden folgende Hauptpunkte gegen
das neue Bauen ins Feld geführt:

1. Die Ideen des neuen Bauens, in der auch im Westen bekannten Weise
als „Konstruktivismus", „Funktionalismus", „Mechanismus" abgestem-
pelt, sind das Resultat des heutigen Kapitalismus, seiner rationalisier-
ten und standardisierten Technik.

2. Die Abkehr des neuen Bauens von der Monumentalität und vom Sym-
bol, seine Verleugnung der absoluten Schönheit, seine Unfähigkeit,
die künstlerisch-ideologische Aufgabe der Architektur zu erfüllen, sind
der Ausdruck für den Verfall der bürgerlichen Kultur.

3. Die idealistisch-utopische Richtung des neuen Bauens (Le Corbusier)
sucht wie die „linken Utopisten" auf dem Gebiet der Politik not-
wendige Etappen auf dem Wege zum Sozialismus zu überspringen und
wirkt dadurch im politischen Sinne gegenrevolutionär.

4. Es ist nicht das Ziel des Sozialismus, die kulturellen Werte der Ver-
gangenheit zu vernichten, sondern im Gegenteil und im Gegensatz
zum heute zerfallenden Kapitalismus, diese Werte zu übernehmen und
weiterzuführen.

Wir müssen es marxistisch besser geschulten Köpfen überlassen, die
Richtigkeit dieser Thesen zu prüfen. Leider fehlt es uns heute, sowohl in
der Geschichte der Architektur als auch der anderen geistigen Gebiete,
an wirklichen historisch-materialistischen Untersuchungen. So eifrig und
hingebend unsere Kunstschriftsteller bemüht sind, das letzte und

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Plan der neuen Stadt Sernograd. Nach der „Zeitschrift für Kommunal-
wirtschaft".

Plan of the New City of Sernograd.
Plan de la nouvelle ville de Sernograd.

hinterste Kunstwerk zu beschreiben, so wenig haben sie sich noch die
Köpfe darüber zerbrochen, warum gerade zu dieser oder jener Zeit
dieses und kein anderes Kunstwerk entstehen konnte.
Halten wir uns also in Ermangelung eines Besseren an das Programm, das
sich das neue Bauen selbst gestellt hatte. Dieses Programm hat seinen
Ausgangspunkt unbestreitbar von den Tatsachen genommen, die der
moderne Kapitalismus geschaffen hat. Man kann seine Ideen sogar als
eine Verfallserscheinung desselben Kapitalismus bezeichnen, aber nur in
dem Sinne, daß diese Ideen bereits über die dem Kapitalismus gesteck-
ten Grenzen hinausgehen — so wenn das neue Bauen im Westen sich
damit begnügen mußte, eine neue Mode auf dem großen Kunstmarkt zu
werden, deren man heute schon wieder ein wenig überdrüssig ist. Der
Westen besäße heute im großen Maßstab die technischen Möglichkeiten
und die kulturellen Bedingungen, die das neue Bauen als Ausgangspunkt
für die Umstellung unseres ganzen Verhältnisses zur Architektur voraus-
gesetzt hatte. Sowjetrußland besitzt heute weder das eine noch das
andere, denn selbst die außerordentlichen Anstrengungen auf dem
Gebiet der Industrialisierung und der „Kulturrevolution" können vorläufig
erst das Fundament legen. Unter diesen Bedingungen ist der Rückschlag,
den das neue Bauen in der Sowjetunion heute erleidet, verständlich und
bedauerlich — aber er beweist noch gar nichts gegen die Richtigkeit

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