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1891.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 10.
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pitälartigen Knauf übergeht, aus welchem dann
sehr natürlich und ungezwungen der untere
Kreuzbalken sich entwickelt; denn die Arme
ermangeln hier des Kleeblatt-Abschlusses und
sind, wenn auch nur durch breite Abschrägung
der Kanten, ebenfalls sechsseitig gehalten.
Die Kanten der Arme sind mit kräftigen,
nicht sehr fein geschnittenen, aber kühn ge-
schwungenen Rankenornamenten, die in grofse,
aus Silber getriebene Blumen auslaufen, belebt,
die Flächen durch ein eingravirtes Ornament,
einen Baum mit kurz abgeschnittenen Aesten.
Wo sonst das Kleeblatt den Abschlufs zu
bilden pflegt, findet sich hier ein ovales, herz-
artig eingebogenes Stück, in welchem auf blauem
Emailgrund die Symbole der vier Evangelisten
sichtbar sind. Auch der Rand ist blaues Email
mit vergoldetem Ornament; ebenso ist auch das
Innere des Nimbus mit Email ausgefüllt, darauf
ein griechisches Kreuz. Der Rand des Heiligen-
scheines ist mit grünen und rothen Steinen
besetzt. Die Figur des Heilandes ist tüchtig
in Silber gearbeitet und ohne Vergoldung, mit
dem Ausdrucke tiefsten Schmerzes. Der Hei-
land ist, so scheint es, als todt gedacht; in dem
mäfsig geöffneten Munde wird die Zunge sicht-
bar. Aus den Wunden strömt das Blut heraus,
das der Fufswunden fängt ein Engel mit einem
Tuche auf.
Eigenartig bei diesem Kreuze ist ein aus
einer Fläche des Fufses weit hervorspringender
Edelstein, der gar nicht motivirt erscheint.
Aber ursprünglich war es auch nicht ein Stein,
sondern eine gefafste Reliquie, die eben, weil
sie dem Volke zum Kusse dargeboten wurde, et-
was weit hervortreten mufste. Bei einer späteren
Restauration hat man die Stelle der wahrschein-
lich verloren gegangenen Reliquie durch einen
Edelstein ersetzt. Dafs es so ist, beweist ein
Inventar aus dem Jahre 1597, in welchem das
Reliquienkreuz also verzeichnet steht: „Crux
argentea inaurata sat magna cum crucifixo in
parte superiori et pacificali in basi".
Und 1609: „Crux magna suis locis deaurata,
in cuius pede reliquiarium orbiculare", und
so auch in den späteren Verzeichnissen.2)
2) Ehemals besafs dieselbe Kirche noch andere kost-
bare Kreuze, z. B. 1609: Crux tota deaurata cum jj
corallis, in cuius pede Veronica, crux tota deaurata
cum corallis 12 et aliis lapillis. Ein spätgothisches aus
vergoldetem Kupfer, in den Formen und Ornamenten roh,
findet sich noch vor. Der Fufs, ebenfalls ein Architektur-
stück mit Strebepfeilern, ist nur mehr zum Thei! erhalten.
Noch etwas anderes ist bei diesem Kreuze
bemerkenswerth, nämlich die Form und Ge-
staltung des Ganzen, besonders die Form der
oberen Kreuzarme. Die älteren Kruzifixe haben
gerade Kreuzbalken. Später begegnen uns viel-
fach geschwungene Arme, anfangs nur wenig
und in sanfter Biegung, später immer kühner.
So z. B. bei einem Altarkreuz der Kirche zu
Mehlsack (Gothisch mit Renaissancefufs), wo
die sanfte Schwingung der Querbalken noch
sehr angenehm wirkt. Unser Rösseler Kreuz
ist nun offenbar als Baum gedacht — crux
fidelis inter omnes arbor una nobilis — mit
kühn geschwungenen Aesten und Zweigen und
reichem Blätterschmucke.3)
Aehnlich freiere Formen finden sich in den
Kirchen des Ostens auch an spätgothischen
Triumphkreuzen (crux pensilis inter altare et
populum). Ein derartiges Holzkreuz bewahrt
z. B. eine ermländische Landkirche (Schellen).
Es hat einen geraden Stamm mit sanft ge-
schweiften Querarmen. Die Flächen der Arme
sind durch einen in der Mitte laufenden Rund-
stab sehr wirkungsvoll verziert. Auf den Enden
sind Holztäfelchen im Vierpafs mit vier recht-
winkeligen Uebergängen zwischen den Bogen-
ansätzen, darauf die Schrift: J. N. R. J. mit
den Symbolen der Evangelisten, befestigt. Eine
Restauration des Kreuzes fand, laut Inschrift,
1679 statt. Die Hauptform blieb unberührt und
es kamen nur einzelne Zuthaten in Renaissance-
formen hinzu.
Braunsberg. Di tt rieh.
3) [Diese geschwungene Form der Querbalken be-
gegnet in den Miniaturen schon viel früher, und die
bereits den romanischen Kasein in Gestalt des Gabel-
kreuzes aufgehefteten Börtchen bezeichnen vielleicht das
erste Auftreten dieser Kreuzform, welche ohne Zweifel
mit der uralten Auffassung des Kreuzes als Lebens-
baum im engsten Zusammenhange steht. Aus ihr er-
gab sich für das Kreuz die so bezeichnende grüne
Farbe schon dort, wo dasselbe sonst noch keinerlei Er-
innerung an den Baum zeigte. Als solcher erscheint es
aber schon öfters im XII. Jahrh., indem abgeschnittene
Aeste ringsum die Balken bordiren. Sie haben sich
in der spätgothischen Periode zu den Krabben und
Schnecken entwickelt, welche vielfach, zumeist in einer
gewissen Abwechselung, die Kreuze (zumal in Deutsch-
land) einfassen, als höchst wirkungsvoller Dekor. Am
meisten empfiehlt derselbe sich für die Vortragkreuze,
welche sich ohne solche ringsum laufende Verzierungen
in der Luft zu scharf und unvermittelt abheben. Die
Silhouetten-Gliederung, die ihnen dadurch zu Theil
wird, ist ein sehr dankbares Motiv, welches sich
natürlich um so besser bewährt, je gröfsere Dimensionen
das Kreuz hat.] D. H.
1891.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 10.
320
pitälartigen Knauf übergeht, aus welchem dann
sehr natürlich und ungezwungen der untere
Kreuzbalken sich entwickelt; denn die Arme
ermangeln hier des Kleeblatt-Abschlusses und
sind, wenn auch nur durch breite Abschrägung
der Kanten, ebenfalls sechsseitig gehalten.
Die Kanten der Arme sind mit kräftigen,
nicht sehr fein geschnittenen, aber kühn ge-
schwungenen Rankenornamenten, die in grofse,
aus Silber getriebene Blumen auslaufen, belebt,
die Flächen durch ein eingravirtes Ornament,
einen Baum mit kurz abgeschnittenen Aesten.
Wo sonst das Kleeblatt den Abschlufs zu
bilden pflegt, findet sich hier ein ovales, herz-
artig eingebogenes Stück, in welchem auf blauem
Emailgrund die Symbole der vier Evangelisten
sichtbar sind. Auch der Rand ist blaues Email
mit vergoldetem Ornament; ebenso ist auch das
Innere des Nimbus mit Email ausgefüllt, darauf
ein griechisches Kreuz. Der Rand des Heiligen-
scheines ist mit grünen und rothen Steinen
besetzt. Die Figur des Heilandes ist tüchtig
in Silber gearbeitet und ohne Vergoldung, mit
dem Ausdrucke tiefsten Schmerzes. Der Hei-
land ist, so scheint es, als todt gedacht; in dem
mäfsig geöffneten Munde wird die Zunge sicht-
bar. Aus den Wunden strömt das Blut heraus,
das der Fufswunden fängt ein Engel mit einem
Tuche auf.
Eigenartig bei diesem Kreuze ist ein aus
einer Fläche des Fufses weit hervorspringender
Edelstein, der gar nicht motivirt erscheint.
Aber ursprünglich war es auch nicht ein Stein,
sondern eine gefafste Reliquie, die eben, weil
sie dem Volke zum Kusse dargeboten wurde, et-
was weit hervortreten mufste. Bei einer späteren
Restauration hat man die Stelle der wahrschein-
lich verloren gegangenen Reliquie durch einen
Edelstein ersetzt. Dafs es so ist, beweist ein
Inventar aus dem Jahre 1597, in welchem das
Reliquienkreuz also verzeichnet steht: „Crux
argentea inaurata sat magna cum crucifixo in
parte superiori et pacificali in basi".
Und 1609: „Crux magna suis locis deaurata,
in cuius pede reliquiarium orbiculare", und
so auch in den späteren Verzeichnissen.2)
2) Ehemals besafs dieselbe Kirche noch andere kost-
bare Kreuze, z. B. 1609: Crux tota deaurata cum jj
corallis, in cuius pede Veronica, crux tota deaurata
cum corallis 12 et aliis lapillis. Ein spätgothisches aus
vergoldetem Kupfer, in den Formen und Ornamenten roh,
findet sich noch vor. Der Fufs, ebenfalls ein Architektur-
stück mit Strebepfeilern, ist nur mehr zum Thei! erhalten.
Noch etwas anderes ist bei diesem Kreuze
bemerkenswerth, nämlich die Form und Ge-
staltung des Ganzen, besonders die Form der
oberen Kreuzarme. Die älteren Kruzifixe haben
gerade Kreuzbalken. Später begegnen uns viel-
fach geschwungene Arme, anfangs nur wenig
und in sanfter Biegung, später immer kühner.
So z. B. bei einem Altarkreuz der Kirche zu
Mehlsack (Gothisch mit Renaissancefufs), wo
die sanfte Schwingung der Querbalken noch
sehr angenehm wirkt. Unser Rösseler Kreuz
ist nun offenbar als Baum gedacht — crux
fidelis inter omnes arbor una nobilis — mit
kühn geschwungenen Aesten und Zweigen und
reichem Blätterschmucke.3)
Aehnlich freiere Formen finden sich in den
Kirchen des Ostens auch an spätgothischen
Triumphkreuzen (crux pensilis inter altare et
populum). Ein derartiges Holzkreuz bewahrt
z. B. eine ermländische Landkirche (Schellen).
Es hat einen geraden Stamm mit sanft ge-
schweiften Querarmen. Die Flächen der Arme
sind durch einen in der Mitte laufenden Rund-
stab sehr wirkungsvoll verziert. Auf den Enden
sind Holztäfelchen im Vierpafs mit vier recht-
winkeligen Uebergängen zwischen den Bogen-
ansätzen, darauf die Schrift: J. N. R. J. mit
den Symbolen der Evangelisten, befestigt. Eine
Restauration des Kreuzes fand, laut Inschrift,
1679 statt. Die Hauptform blieb unberührt und
es kamen nur einzelne Zuthaten in Renaissance-
formen hinzu.
Braunsberg. Di tt rieh.
3) [Diese geschwungene Form der Querbalken be-
gegnet in den Miniaturen schon viel früher, und die
bereits den romanischen Kasein in Gestalt des Gabel-
kreuzes aufgehefteten Börtchen bezeichnen vielleicht das
erste Auftreten dieser Kreuzform, welche ohne Zweifel
mit der uralten Auffassung des Kreuzes als Lebens-
baum im engsten Zusammenhange steht. Aus ihr er-
gab sich für das Kreuz die so bezeichnende grüne
Farbe schon dort, wo dasselbe sonst noch keinerlei Er-
innerung an den Baum zeigte. Als solcher erscheint es
aber schon öfters im XII. Jahrh., indem abgeschnittene
Aeste ringsum die Balken bordiren. Sie haben sich
in der spätgothischen Periode zu den Krabben und
Schnecken entwickelt, welche vielfach, zumeist in einer
gewissen Abwechselung, die Kreuze (zumal in Deutsch-
land) einfassen, als höchst wirkungsvoller Dekor. Am
meisten empfiehlt derselbe sich für die Vortragkreuze,
welche sich ohne solche ringsum laufende Verzierungen
in der Luft zu scharf und unvermittelt abheben. Die
Silhouetten-Gliederung, die ihnen dadurch zu Theil
wird, ist ein sehr dankbares Motiv, welches sich
natürlich um so besser bewährt, je gröfsere Dimensionen
das Kreuz hat.] D. H.