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1891. — ZEITSCHRIFT KÜR CHRISTLICHE KUNST -* Nr. 11.
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2. Im Anschlufs an einen von ihm angeführ-
ten Vortrag stimmt der Verfasser „einer ein-
seitigen Verwendung der Gothik schon deshalb
nicht bei, weil dann zuerst alle Beziehungen,
die wir zur Antike und Renaissance haben, ver-
nichtet werden müfsten". Fassen wir dieses
Argument klar ins Auge. Die Behauptung lau-
tet: Entweder dürfen wir nicht ausschliefslich
gothisch bauen — oder wir müssen die Bezie-
hungen zur Renaissance und Antike vernichten.
Letzteres ist aber nicht möglich (Sp. 380), also
dürfen wir nicht ausschliefslich gothisch bauen.
Es ist nicht klar, was der Verfasser unter
den Beziehungen versteht. Fafst er das Wort
in dem gewöhnlichen Sinne, dann ist sein „Ent-
weder — oder" gar nicht richtig, wohl aber
sein Untersatz. Versteht er aber darunter, dafs
wir nicht in Renaissance- oder Antik-Stil bauen
sollen, dann ist sein „Entweder — oder" rich-
tig, aber sein Untersatz falsch; sein Schlufssatz
kann sich demnach in keinem Falle ergeben.
Warum sollte es denn nicht möglich sein,
auf den Renaissance- oder die antiken Stile zu
verzichten? Das war ja im Mittelalter möglich;
wie viel mehr jetzt, da wir unterdessen noch
technische Fortschritte gemacht haben? — Doch
das wollte der Verfasser auch wohl nicht sagen.
Sehen wir also, ob wir unsere „Beziehungen"
im gewöhnlichen Wortsinne aufgeben müssen.
Unsere Beziehung zur „Renaissance" ist die
des Gegensatzes, der Zurückweisung — doch
auch eine „Beziehung", wenn auch keine freund-
schaftliche. Wir schätzen viele Werke des Re-
naissance-Zeitraums sehr hoch — aber die Re-
naissance als System, als Gesammtheit einer
Bauweise, halten wir für unberechtigt. Sie
ist ein gewaltsamer Bruch mit der Vergan-
genheit, ein Rückschritt, eine Vermischung
unseres deutschen Kunstlebens mit gänzlich
fremden, ihm theils widersprechenden, theils
längst von ihm überholten Anschauungen. Was
die Renaissance in Deutschland Gutes hervor-
gebracht hat, ist nicht die Frucht ihres inneren,
im Grunde umstürzlerischen Wesens, sondern
die Frucht des noch nicht so schnell zu er-
tödtenden, mittelalterlichen Geistes. Sobald
dieser gründlich aus der Kunst ausgetrieben
war, ging die Renaissance nach äufserst kurzer
Blüthe in Barock und Zopf und namenlose Will-
kür über, und starb an gänzlichem Kräfteverfall.
— Schon aus dieser Stellung der Renaissance
ergiebt sich, dafs wir auf dem richtigen Wege
sind, wenn wir bei der Gothik anknüpfen,
die nicht an innerem Siechthum zu Grunde ge-
gangen ist, bei der aber das bis dahin unun-
terbrochene Band der Vergangenheit abge-
rissen wurde, welche die bis dahin höchste
erreichte Stufe der Baukunst darstellt. Es wird
sich ja in naturgemäfser Entwickelung zeigen,
ob wir nach ihr noch eine neue höhere Stufe
erreichen können. — An den romanischen
Stil anzuknüpfen, hat schon deshalb keinen
Sinn, weil derselbe in naturgemäfser Ent-
wicklung in den gothischen hineinge-
führt hat, also ganz sicher bereits überholt ist.
Mir kommt das fast ebenso unlogisch vor, als
wenn jetzt noch Jemand eine Dampfmaschine
nach altem Watt'schen System bauen wollte.
Ist unsere Beziehung zur Renaissance als Bau-
system unfreundlich, so ist sie dies jedoch, wie
bereits bemerkt, keineswegs den einzelnen im
Renaissancestil erbauten Werken gegenüber.
Bei jedem Werke mufs man den Antheil des
Stiles und den des Meisters unterscheiden, und
von den Meistern der Renaissance können
wir oft recht viel Gutes lernen.
Unsere Beziehung zur Renaissance ist in-
dessen für die Hauptfrage „Gothisch oder Ro-
manisch?" ohne Belang, wenigstens so lange wir
nicht etwa unter dem Namen „romanisch" die
Ideen der Renaissance einschmuggeln wollen. —
Doch nun unsere Beziehung zur Antike.
Es ist die Beziehung des Ursprungs. Wie
das eine Lebewesen vom andern seinen Ur-
sprung hat, aber nicht von ihm allein und
später gar nicht mehr von ihm die Mittel seiner
Entwickelung nimmt, sondern ein selbstständi-
ges Dasein führt, so etwa ist unsere Kunst das
Kind der griechischen und römischen, aber auf-
erzogen in christlichem Geiste und vervoll-
kommnet durch viele Erfahrungen, die der alten
Kunst nicht zu Gebote standen. Diese Bezie-
hung des Ursprungs können und wollen wir
nicht vernichten, aber anderseits brauchen wir
auch nicht die spätere Vervollkommnung zu
verleugnen und zu einer frühern Stufe zurück-
zukehren, um dem Ursprung etwas näher zu
sein. Das würden wir aber thun, wenn wir zum
romanischen Stil zurückkehrten. Er verhält sich
in dieser Hinsicht zum gothischen, wie die
Jugend zum reifen Mannesalter.
3. In Verbindung hiermit können wir so-
gleich die weitere Ansicht des genannten Auf-
satzes würdigen: der romanische Stil empfehle
1891. — ZEITSCHRIFT KÜR CHRISTLICHE KUNST -* Nr. 11.
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2. Im Anschlufs an einen von ihm angeführ-
ten Vortrag stimmt der Verfasser „einer ein-
seitigen Verwendung der Gothik schon deshalb
nicht bei, weil dann zuerst alle Beziehungen,
die wir zur Antike und Renaissance haben, ver-
nichtet werden müfsten". Fassen wir dieses
Argument klar ins Auge. Die Behauptung lau-
tet: Entweder dürfen wir nicht ausschliefslich
gothisch bauen — oder wir müssen die Bezie-
hungen zur Renaissance und Antike vernichten.
Letzteres ist aber nicht möglich (Sp. 380), also
dürfen wir nicht ausschliefslich gothisch bauen.
Es ist nicht klar, was der Verfasser unter
den Beziehungen versteht. Fafst er das Wort
in dem gewöhnlichen Sinne, dann ist sein „Ent-
weder — oder" gar nicht richtig, wohl aber
sein Untersatz. Versteht er aber darunter, dafs
wir nicht in Renaissance- oder Antik-Stil bauen
sollen, dann ist sein „Entweder — oder" rich-
tig, aber sein Untersatz falsch; sein Schlufssatz
kann sich demnach in keinem Falle ergeben.
Warum sollte es denn nicht möglich sein,
auf den Renaissance- oder die antiken Stile zu
verzichten? Das war ja im Mittelalter möglich;
wie viel mehr jetzt, da wir unterdessen noch
technische Fortschritte gemacht haben? — Doch
das wollte der Verfasser auch wohl nicht sagen.
Sehen wir also, ob wir unsere „Beziehungen"
im gewöhnlichen Wortsinne aufgeben müssen.
Unsere Beziehung zur „Renaissance" ist die
des Gegensatzes, der Zurückweisung — doch
auch eine „Beziehung", wenn auch keine freund-
schaftliche. Wir schätzen viele Werke des Re-
naissance-Zeitraums sehr hoch — aber die Re-
naissance als System, als Gesammtheit einer
Bauweise, halten wir für unberechtigt. Sie
ist ein gewaltsamer Bruch mit der Vergan-
genheit, ein Rückschritt, eine Vermischung
unseres deutschen Kunstlebens mit gänzlich
fremden, ihm theils widersprechenden, theils
längst von ihm überholten Anschauungen. Was
die Renaissance in Deutschland Gutes hervor-
gebracht hat, ist nicht die Frucht ihres inneren,
im Grunde umstürzlerischen Wesens, sondern
die Frucht des noch nicht so schnell zu er-
tödtenden, mittelalterlichen Geistes. Sobald
dieser gründlich aus der Kunst ausgetrieben
war, ging die Renaissance nach äufserst kurzer
Blüthe in Barock und Zopf und namenlose Will-
kür über, und starb an gänzlichem Kräfteverfall.
— Schon aus dieser Stellung der Renaissance
ergiebt sich, dafs wir auf dem richtigen Wege
sind, wenn wir bei der Gothik anknüpfen,
die nicht an innerem Siechthum zu Grunde ge-
gangen ist, bei der aber das bis dahin unun-
terbrochene Band der Vergangenheit abge-
rissen wurde, welche die bis dahin höchste
erreichte Stufe der Baukunst darstellt. Es wird
sich ja in naturgemäfser Entwickelung zeigen,
ob wir nach ihr noch eine neue höhere Stufe
erreichen können. — An den romanischen
Stil anzuknüpfen, hat schon deshalb keinen
Sinn, weil derselbe in naturgemäfser Ent-
wicklung in den gothischen hineinge-
führt hat, also ganz sicher bereits überholt ist.
Mir kommt das fast ebenso unlogisch vor, als
wenn jetzt noch Jemand eine Dampfmaschine
nach altem Watt'schen System bauen wollte.
Ist unsere Beziehung zur Renaissance als Bau-
system unfreundlich, so ist sie dies jedoch, wie
bereits bemerkt, keineswegs den einzelnen im
Renaissancestil erbauten Werken gegenüber.
Bei jedem Werke mufs man den Antheil des
Stiles und den des Meisters unterscheiden, und
von den Meistern der Renaissance können
wir oft recht viel Gutes lernen.
Unsere Beziehung zur Renaissance ist in-
dessen für die Hauptfrage „Gothisch oder Ro-
manisch?" ohne Belang, wenigstens so lange wir
nicht etwa unter dem Namen „romanisch" die
Ideen der Renaissance einschmuggeln wollen. —
Doch nun unsere Beziehung zur Antike.
Es ist die Beziehung des Ursprungs. Wie
das eine Lebewesen vom andern seinen Ur-
sprung hat, aber nicht von ihm allein und
später gar nicht mehr von ihm die Mittel seiner
Entwickelung nimmt, sondern ein selbstständi-
ges Dasein führt, so etwa ist unsere Kunst das
Kind der griechischen und römischen, aber auf-
erzogen in christlichem Geiste und vervoll-
kommnet durch viele Erfahrungen, die der alten
Kunst nicht zu Gebote standen. Diese Bezie-
hung des Ursprungs können und wollen wir
nicht vernichten, aber anderseits brauchen wir
auch nicht die spätere Vervollkommnung zu
verleugnen und zu einer frühern Stufe zurück-
zukehren, um dem Ursprung etwas näher zu
sein. Das würden wir aber thun, wenn wir zum
romanischen Stil zurückkehrten. Er verhält sich
in dieser Hinsicht zum gothischen, wie die
Jugend zum reifen Mannesalter.
3. In Verbindung hiermit können wir so-
gleich die weitere Ansicht des genannten Auf-
satzes würdigen: der romanische Stil empfehle