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H. MÜLLER -HICKLER, STUDIEN ÜBER DEN LANGEN SPIESS
IV. BAND
Heere davontrugen, auch ohne den Rückhalt
an der Wagenburg. Karl der Kühne hatte
Nichts versäumt, nach seiner Meinung sein Heer
auf die höchste Stufe zu bringen. Sein Be-
stand an Reiterei, vor Allem aber an Gewehr und
Geschütz war sehr bedeutend. Es betrug 1472
(nach Escher:) 7200 Reiter und 3600 Fufsgänger,
darunter 5200 Schützen und trotzdem siegten
die Schweizer, weil auch der Burgunderherzog
nicht erkannt hatte, dafs die Zeit der Reiterei
vorüber war, und weil die Sonne der Fernwaffe
noch nicht schien. Der Herzog, der in Bezug
auf die richtig'e Einschätzung der Schiefswaffe
seiner Zeit weit vorausgeeilt war, mufste Um-
kehr halten und einsehen, dafs, wollte er Aus-
sicht auf Erfolg haben, er seine Truppen eben-
falls mit dem Spiefse bewaffnen müfse.
Die Einführung des schweizer Spiefses mag
wohl unseren Landsleuten, die nur gewohnt
waren, mit dem klobigen kurzen Knebel oder
Federspiefse zu fechten, etwas Grundneues ge-
wesen sein; die Handhabung der fremden Waffe
erforderte mehr Gefechtsfertigkeit und tägliches
Üben. Es war ja überhaupt so Manches anders
geworden; der Knecht hatte die Scheu vor der
Ritterlanze und dem drohend nickenden Helm-
busch der Gepanzerten verloren. Anfangs wohl
verzagt, doch später auf die lange Waffe ver-
trauend, die den Feind zeitig ab wehrte, stellte
er sich den Reitern entgegen, angeregt durch
die Berichte der Schlachten bei Sempach, am
Moorgarten, bei Murten, Nancy, Kortwyk und
anderer, wo der seither so verachtete Unberittene
den Fufs auf die erschlagenen Renner und deren
Herren gesetzt hatte.
Bald jedoch verlor der Spiefs seine eigent-
liche Bestimmung. Nicht mehr wie seither er-
wartete er den Angriff Geharnischter. Die
Ritterheere waren dahingesunken im Aufblitzen
und in dem Rauch des ersten Pulverschusses, der
Fufsgänger sah seines Gleichen ins Auge, der
defensive Charakter des Spiefses ward ins Gegen-
teil verwandelt, die Offensive mit einer eminenten
Energie war an ihre Stelle getreten, und das
Werkzeug dieser Offensive, die Taktik, Form und
Resultat von Grund aus verändert, war der lange
Spiefs. Vor allem veränderte er die alte Angriffs-
form, den Keil, in die breite gevierte Ordnung.
Ohne dafs ich auf dieses weite Gebiet eingehen
will, möchte ich nur bemerken, dafs wie auch die
Treffen geordnet waren, der Spiefs in Seite,
Front und Rücken die wichtigste Waffe blieb,
dafs er vor allem den Schufswaffen ein schützender
Kamerad wurde, unter dessen Beistand erst sie
ungefährdet zur Geltung kommen konnten, selbst
noch am Ende des 17. Jahrhunderts.
Bevor wir uns nun mit des Spiefses Form
beschäftigen, noch einige Worte über den Namen
der Waffe. Es ist merkwürdig, dafs manchmal
gerade die Stellen, die Aufklärung über die
oft ins Märchenhafte getauchten Ansichten von
jener Zeit bringen sollen, diejenigen Namen un-
richtig schreiben, die vor allem ohne Zweifel
richtig sein sollten.
Wie der Name Landsknecht bis vor kurzem
„Lanzknecht“ geschrieben wurde und noch wird
und zwar in ersten Sammlungen, so geht es
auch mit seiner Waffe, die einmal Lanze, dann
Pike, dann Spiefs genannt wird und in der Ver-
bindung mit ihrem Träger die unglaublichsten
Titulaturen erdulden mufs. So liest man „Lands-
knechtlanze, Landsknechtsspiefs“ und sogar „Lanz-
knechtspiefs“. Die Waffe hiefs „Spiefs oder
langer Spiefs“, auch manchmal Pinne und wird
in allen zeitgenössischen Schriften nie anders
genannt, im 17. Jahrhundert öfter Pike der
Träger aber trotzdem Spiefser oder auch Pikenier.
Das Wort „Lanze“ dagegen ist jenem Jahr-
hundert fast ganz fremd und sogar die Reiter-
waffe wird „Spiefs“ oder auch „Rennspiefs“ ge-
heifsen.
A\is einem mir nicht erfindlichen Grund ßnden
wir in den Zeugbüchern Maximilians den Aus-
druck „Lantzeneisen“ für Spiefseisen. Doch ist
das eine grofse Ausnahme, die um so auffallen-
der wird, als im Triumphzug ausdrücklich,
wie auf Blatt 5 ersichtlich, von Spiefsen ge-
sprochen wird.
Lanze dagegen wird in diesem Werke eine
von Trabanten geführte breitblattige Waffe ge-
nannt, die ohne Hals auf dem Schaft sitzt und von
Trägern ohne Wehre geführt wird. Also liegt
hier eine nachträglich von unkundiger Hand ein-
gesetzte Bezeichnung vor.
Den wichtigsten Teil dieses Aufsatzes soll die
möglichst genaue Beschreibung des langen
Spiefses bilden und aufserdem sei vor allem ver-
sucht, die deutsche Art zu beschreiben.
Durch meine eigenen Studien und eine um-
fassende Korrespondenz mit den ersten Kennern
der Spiefswaffen und den Leitern aller gröfseren
Waffensammlungen der Schweiz, Deutschlands
und Österreichs glaube ich einen Überblick über
alles vorhandene Material erhalten zu haben und
drücke an dieser Stelle allen, die mich so ausge-
zeichnet liebenswürdig unterstützten, meinen er-
gebensten Dank aus.
Meine Annahme, dafs in den Landen, in
denen die ersten Landsknechte geworben wurden,
die gröfste Zahl der Spiefse vorhanden sei, hat
sich leider nicht bestätigt. In allen Waffensamm-
lungen Deutschlands und Österreichs wird es
H. MÜLLER -HICKLER, STUDIEN ÜBER DEN LANGEN SPIESS
IV. BAND
Heere davontrugen, auch ohne den Rückhalt
an der Wagenburg. Karl der Kühne hatte
Nichts versäumt, nach seiner Meinung sein Heer
auf die höchste Stufe zu bringen. Sein Be-
stand an Reiterei, vor Allem aber an Gewehr und
Geschütz war sehr bedeutend. Es betrug 1472
(nach Escher:) 7200 Reiter und 3600 Fufsgänger,
darunter 5200 Schützen und trotzdem siegten
die Schweizer, weil auch der Burgunderherzog
nicht erkannt hatte, dafs die Zeit der Reiterei
vorüber war, und weil die Sonne der Fernwaffe
noch nicht schien. Der Herzog, der in Bezug
auf die richtig'e Einschätzung der Schiefswaffe
seiner Zeit weit vorausgeeilt war, mufste Um-
kehr halten und einsehen, dafs, wollte er Aus-
sicht auf Erfolg haben, er seine Truppen eben-
falls mit dem Spiefse bewaffnen müfse.
Die Einführung des schweizer Spiefses mag
wohl unseren Landsleuten, die nur gewohnt
waren, mit dem klobigen kurzen Knebel oder
Federspiefse zu fechten, etwas Grundneues ge-
wesen sein; die Handhabung der fremden Waffe
erforderte mehr Gefechtsfertigkeit und tägliches
Üben. Es war ja überhaupt so Manches anders
geworden; der Knecht hatte die Scheu vor der
Ritterlanze und dem drohend nickenden Helm-
busch der Gepanzerten verloren. Anfangs wohl
verzagt, doch später auf die lange Waffe ver-
trauend, die den Feind zeitig ab wehrte, stellte
er sich den Reitern entgegen, angeregt durch
die Berichte der Schlachten bei Sempach, am
Moorgarten, bei Murten, Nancy, Kortwyk und
anderer, wo der seither so verachtete Unberittene
den Fufs auf die erschlagenen Renner und deren
Herren gesetzt hatte.
Bald jedoch verlor der Spiefs seine eigent-
liche Bestimmung. Nicht mehr wie seither er-
wartete er den Angriff Geharnischter. Die
Ritterheere waren dahingesunken im Aufblitzen
und in dem Rauch des ersten Pulverschusses, der
Fufsgänger sah seines Gleichen ins Auge, der
defensive Charakter des Spiefses ward ins Gegen-
teil verwandelt, die Offensive mit einer eminenten
Energie war an ihre Stelle getreten, und das
Werkzeug dieser Offensive, die Taktik, Form und
Resultat von Grund aus verändert, war der lange
Spiefs. Vor allem veränderte er die alte Angriffs-
form, den Keil, in die breite gevierte Ordnung.
Ohne dafs ich auf dieses weite Gebiet eingehen
will, möchte ich nur bemerken, dafs wie auch die
Treffen geordnet waren, der Spiefs in Seite,
Front und Rücken die wichtigste Waffe blieb,
dafs er vor allem den Schufswaffen ein schützender
Kamerad wurde, unter dessen Beistand erst sie
ungefährdet zur Geltung kommen konnten, selbst
noch am Ende des 17. Jahrhunderts.
Bevor wir uns nun mit des Spiefses Form
beschäftigen, noch einige Worte über den Namen
der Waffe. Es ist merkwürdig, dafs manchmal
gerade die Stellen, die Aufklärung über die
oft ins Märchenhafte getauchten Ansichten von
jener Zeit bringen sollen, diejenigen Namen un-
richtig schreiben, die vor allem ohne Zweifel
richtig sein sollten.
Wie der Name Landsknecht bis vor kurzem
„Lanzknecht“ geschrieben wurde und noch wird
und zwar in ersten Sammlungen, so geht es
auch mit seiner Waffe, die einmal Lanze, dann
Pike, dann Spiefs genannt wird und in der Ver-
bindung mit ihrem Träger die unglaublichsten
Titulaturen erdulden mufs. So liest man „Lands-
knechtlanze, Landsknechtsspiefs“ und sogar „Lanz-
knechtspiefs“. Die Waffe hiefs „Spiefs oder
langer Spiefs“, auch manchmal Pinne und wird
in allen zeitgenössischen Schriften nie anders
genannt, im 17. Jahrhundert öfter Pike der
Träger aber trotzdem Spiefser oder auch Pikenier.
Das Wort „Lanze“ dagegen ist jenem Jahr-
hundert fast ganz fremd und sogar die Reiter-
waffe wird „Spiefs“ oder auch „Rennspiefs“ ge-
heifsen.
A\is einem mir nicht erfindlichen Grund ßnden
wir in den Zeugbüchern Maximilians den Aus-
druck „Lantzeneisen“ für Spiefseisen. Doch ist
das eine grofse Ausnahme, die um so auffallen-
der wird, als im Triumphzug ausdrücklich,
wie auf Blatt 5 ersichtlich, von Spiefsen ge-
sprochen wird.
Lanze dagegen wird in diesem Werke eine
von Trabanten geführte breitblattige Waffe ge-
nannt, die ohne Hals auf dem Schaft sitzt und von
Trägern ohne Wehre geführt wird. Also liegt
hier eine nachträglich von unkundiger Hand ein-
gesetzte Bezeichnung vor.
Den wichtigsten Teil dieses Aufsatzes soll die
möglichst genaue Beschreibung des langen
Spiefses bilden und aufserdem sei vor allem ver-
sucht, die deutsche Art zu beschreiben.
Durch meine eigenen Studien und eine um-
fassende Korrespondenz mit den ersten Kennern
der Spiefswaffen und den Leitern aller gröfseren
Waffensammlungen der Schweiz, Deutschlands
und Österreichs glaube ich einen Überblick über
alles vorhandene Material erhalten zu haben und
drücke an dieser Stelle allen, die mich so ausge-
zeichnet liebenswürdig unterstützten, meinen er-
gebensten Dank aus.
Meine Annahme, dafs in den Landen, in
denen die ersten Landsknechte geworben wurden,
die gröfste Zahl der Spiefse vorhanden sei, hat
sich leider nicht bestätigt. In allen Waffensamm-
lungen Deutschlands und Österreichs wird es