Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

DOI chapter:
Nr. 52 - Nr. 60 (1. Juli - 29. Juli)
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.44635#0207

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
geidelberger Volloblatt.

Nr. 52.

Samſtag, den 1. Juli 1876.

9. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Ainzelne RNummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Präſibentiu.
Keninalgeſchichte von J. D. H Temme.
(Fortſetzung.)

Zum öftern drängte ſich auf die Lippen der Kammer-
frau ein Wort der Erkundigung, der Theilnahme an die
ſchweigende und unter dem Schweigen um ſo tiefer lei-
dende junge ſchöne Frau. Sie war ja von der Geburt
dieſer Frau an bis heute ihre Leiteriu, Beſchütz⸗rin, Ver-
traute geweſen. Sie hatte ihr die Mntter erſetzen müͤſ⸗
ſen; die Mutter, die Wege wanderte, von denen ein Kind,
namentlich eine Tochter keine Ahnung haben durfte. Frau
Erhardt wagte nicht, das Wort über ihre Lippen zu brin-
gen. Ein Sturm hätte folgen müſſen, ein Ausbruch des
tiefſten, ſchmerzlichſten Leidens, Entſetzlicheres vielleicht,
und der General war in der Nähe. Die Schlafgemächer
der beiden Gatten waren nur durch einen kleinen Salon
getrennt, der von ihnen manchmal zum gemeinſamen Früh-
ſtück benutzt wurde. ö
Ein Ausbruch ſollte dennoch erfolgen.
Die Generalin hatte ſich in ihr Bett gelegt. Die
Kammerfrau ſtrich die Decke glatt, ſagte wie gewöhnlich
ihr: „Gute Nacht, gnädige Frau!“ wollte ſich entfernen.
Sie wurde zurückgehalten.
Marianne! rief leiſe die Stimme der Herrin.
Was befehlen die gnädige Frau ?
Die junge Frau hatte ſich aufgerichtet. r Geſicht
war bleich, ihre Augen ſtarrten roß und hodt. ſeh
„Marianne, Marianne!“ rief ſie, und mit jeder Silbe
wurde ihre Stimme lauter, ängſtlicher, beängſtigender,
wurden ihre Bewegungen heftizer. Sie ſchlang die Arme
um die Dienerien, riß ſie an ihre Bruſt.
Kind, Kind! bat die Frau, wie in früheren Zeiten,
da ſie die Mutter der unglücklichen Frau geweſen war.
Wir werden gehört, Helene!
Mag man uns hören!
U. Dienerin legte das geiſterbleiche Geſicht an ihre
ruſt.
VWeine Dich aus! ſagte ſie.

Die unglücktiche jange Dame weinte ſich aus an dem
treuen Herzen der Waärterin.
Meine Mutter! klagte ſie leiſe! Ach, Marianne,
ein Kind das ſeine Mutter nicht lieben kann! Das nicht

einmal! — Ach, warum mußte ich denn ſehen und hoͤren?
Sprich davon nicht, mein Kind! bat die Frau.
Ich muß, ich muß! Und nur gegen Dich darf, kann
ich es. Bei dem braven General ſie anklagen, das wäre

mir unwͤglich. Aber Du keunſt ja mein Herz. Du

kennſt mein ganzes Leben und Du warſt ja immer das
Lomihe Herz, das mich liebt, dem ich mich anvertrauen
onnte. ů ö ö
Auch Dein braver Gemahl liebt Dich, Helene!
Aber — O, Mariaune, er iſt der brapſte, der edelſte
Freund; aber — ö
Sie brach wieder ab. Sie weinte um ſo bitterlicher.
Warum biſt Du gerade heute ſo unglücklich? fragte
die Kammerfrau. ö
Bin ich es nicht immer, Marianne? Und weiß ich,
warum ich Wochen, Monate lang die Kraft habe, mein
Leid in meinem Innern zu verſchließen und es dann auf
einmal hervorbricht? ö ö
Die Nachrichten aus
ſchwer, mein Kind!
Sie kommen hinzu. Wenn auch wir hier ſo überfal-
len würden! Ach, Marianne, wenn ich den General ver-
löre —! Meine Stütze gegen — meine Mutter —!
Helene, ſagte die Kammerfrau faſt ſtrenge, gieb' ſol-
chen Gedanken keinen Raum. Du quälſt Dich grauſam
damit! Schlafe jetzt!
Die Generalin ſchwieg, wie ein gehorſames Kind.

Polen machen Dir das Herz

Sie legte ſich feſter an die Bruſt der Wärterin; ſie wurde
ru

hig. ö
Gute Nacht, meine liebe Helene, ſagte noh einmal
die Frau Erhardt.
Bete für mich, Mariannꝛ! bet die Generalin.
Dann hatte ſie noch eine Bitte; wie ein Befehl kam
es wahrlich nicht aus dem Munde der Leidenden.
Zieh' die Vorhänge zu! Recht feſt!
Die Kammerfeau that es, ader ſie mußte den Kopf
dabei ſchüttelin. Die Generalin hatte ſtets, ſchon als
Kind, mit weit zurückgezogenen Vorhängen geſchlafen.
Warum heute anders? Dieſe Polenzeſchichten! ſagte ſich
die Frau noch. ö
Sie ko inte nur mit ſchwerem Herzen ſich entfernen,
ihr eiaſames Kämmerlein aufſuchen. Und hier mußte ſie
ſich an das Fenſter ſetzen und ſelbſt im Dunkeln hinaus-
horchen und ſpähen in das Dunkel des Hofes.
Sie mochte eine halde Stunde ſo geſeſſen haben. Sie
hatte nichts wahrgenommen, ihr Ohr keiaen Laut, ihr
 
Annotationen