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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

DOI issue:
Heft 16 (2. Maiheft 1901)
DOI article:
Henrici, Karl: Ueber die Wahrheit in der Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0147

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ganz gleiche Dimensionen angemessen und zu ihrer Ausführung dieselben
Baumaterialien zu verwenden. Was also die konstruktive Grundlage
anlangt, aus der der Formgedanke hervorwachsen müßte, so ist bei beiden
kein Unterschied vorhanden. Aber welche künstlerische Lüge würde ich
begehen, wenn ich bei beiden Aufgaben, auf der gleichen Grundlage zu
demselben Ergebnis gelangte, wenn sich meine Phantasie nicht gänzlich
loslösen könnte von der rein technischen Seite der Ausführung, um das
eine Mal einen Turm zu gestalten, der nichts anderes sein kann als
ein Rathausturm, das andre Mal einen Turm, dem man es sofort an-
sieht, daß er einem Gotteshause angehören muß.

Das Wort „Konstruktion", als Bezeichnung des Jnbegriffes der
Wahrheit im architektonischen Schaffen, hat besonders der moderne Gotiker
zum Aushängeschild erkoren, und wunderbarerweise wird es in besonders
marktschreierischer Betonung in gleichem Sinne von der ultramodernen
Wagner-Schule in Wien benützt. Aber weder bei der einen noch der
andern Kunstrichtung will es mir gelingen, die That mit der Lehre in
Einklang zu bringen, und in der Verherrlichung der Konstruktion als der
berufenen Erzeugerin aller architektonischen schöpferischen Gedanken mehr
als eine höhere Phraseologie zu erkennen.

Sehen wir einstweilen also von der Konstruktion und vom Materiale
ab, so wird sich dahin leicht eine Einigung finden lassen, daß ein Bau-
werk in seiner äußeren Erscheinung das erkennen lassen muß, was es
ist, um den Anspruch auf künstlerische Wahrheit machen zu können. Es
wird wohl kaum einen ordentlichen Architekten geben, dem diese Erkennt-
nis als leitender Grundsatz nicht in Fleisch und Blut steckte, abcr doch
ist es nicht müßig, imMer wieder warnend die Stimme zu erheben gegen
die vielen Verstöße, die trotzdem gegen diesen Grundsatz gemacht werden,
und die meist der Neigung des Architekten oder des Bauherrn ent-
springen, möglichst zu glänzen und mehr zu scheinen als man ist.

Nun, den Lesern des Kunstwarts braucht das nicht schon wieder
gesagt zu werden, nachdem erst durch Schultze-Naumburg dieses Kavttel
in Wort und Bild so eindringlich zu Gemüte geführt worden ist. Wem
d a bei nicht klar geworden ist, daß aller unnötige äußerliche Aufwand
nur Mangel an innerer Vornehmheit verrät, der wird nicht zu bekehren
sein. Aber ich fühle mich gerade durch jene Aufsätze und Bilder dazu
angeregt, vom Standpunkt des Architekten aus die Unterhaltung über die
Wahrheit in der Architektur noch etwas weiter auszuspinnen.

Jch sagte, daß ein Bauwerk, um künstlerisch wahr zu sein, er-
kennen lassen müsse, welchem Zwcck es diene, daß also beispielsweise
ein Rathaus nicht wie eine Kirche, ein Schulhaus nicht lvie eiu Pferde-
stall u. s. w. aussehen dürfe, und umgekehrt. Nun, schon durch eine ein-
fache sachgemäße Auffassung und Lösung einer Aufgabe wird das in den
meisten Fällen erreicht werden, aber doch nicht in allen Fällen. Z. B.
könnte eine Schule sehr ähnlich einer Kaserne oder einem Amtsgerichts-
gebäude werden, wenn der Architekt nicht die künstlerische Fähigkeit be-
sitzt, das eine wie das andre Gebäude mit charakteristischen Merkmalen
auszustatten. Besonders wenn es sich um Bauwerke ernsteren Charakters
handelt, z. B. solche, die Kultuszwecken oder der Repräsentation be-
dcutungsvoller staatlicher und bürgerlicher Einrichtungen dienen, wird
man nicht davon allein befriedigt sein, datz man den Zweck des Gebäudes

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