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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1901)
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Batka, Richard: Bunte Bühne
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0237

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dem Durchschnitt französischer Chanteure und Diseusen noch zurück. Es
mangelt an Stimmen und Jndividualitäten, die erfolgreichsten Szenen
wirken mehr durch die äußerliche Zuthat einer geschickten Regie als durch
innere Belebung oder durch den Rciz des Gesanges. Die Aufeinander-
svlge der Nummern vollzieht sich nicht mit jener Schlagfertigkeit, die
den Hörer kaum zur Besinnung kommen läht, sondern mit philiströser
Langweile, zumal Wolzogen, dessen verbindendes, witziges Geplauder so
gerühmt wurde, an der Geschichte keinen Spaß mehr zu finden scheint
und sich auf einige nüchterne, geschäftsmäßige Ankündigungen beschränkt,
die bestenfalls den Vorteil haben, den Programm-Zettel überflüssig zu
machen. Von einem „neucn Stil" ist nichts zu bemerken, und das etwa
vorhandene Gute haben wir am alten Brettl keineswegs schlechter ge-
habt.

Woher also, srage ich nochmals, das cigentümlich Lockende des
Bunten Theaters? Jrre ich nicht sehr, so liegt es im Prinzip, in seiner
Annehmlichkeit sür eine Hörerschaft, die den Anspannungen eines größeren
Kunstwerkes überhaupt oder im Augenblick aus dem Wege gehen will,
die sich nach des Tages Arbeit zerstreuen und nicht sammeln möchte
oder die zu sehr mit der Ungeduld der Dekadenz behaftet ist, um weit-
läusige Zusammenhänge zu verfolgen oder eine von langer Hand vor-
bereitete Wirkung abzuwarten. Der Hang zum Kunstgenuß in kleinen
Dosen erklärt sich bei dem besseren Teil des Publikums einfach als
Rückschlagerscheinung gegen die Zumutungen, welche die moderne Bühne
an die Nerven, an die Aufmerksamkeit und geistige Mitarbeit des Hörers
stellt. Man denke an unsere Musikdramen mit ihrer verwickelten Polp-
phonie, ihrem beziehungsvollen Motivgewebe im Orchester, mit ihren
schwer einprägsamen Tonschritten in den Kantilenen. Oder etwa an
ein Jbsensches Stück mit seinem zögcrnden Aufrollen der Vorgeschichte,
seinem Dialog, worin man zwischen den Zeilen dcn wahren Sinn und
in den Zeilen selbst die leisen Anspielungen und halbangedeuteten Ge-
dankcn verstehen soll. Jst es da ein Wunder, wenn die von solcher an-
strengsamen Kunst ermattete Menschheit eine Gattung begrüßt, die ihr
wit künstlerischen Allüren, unter der Flagge anerkannter Literatcn ent-
gegenkommt, ihr keine Rätsel zu lösen und sonst keine Nüsse zu knacken
ausgibt, sie aus die selig machcnde Pointe nicht lange passcn läßt, keine
Sammlung bedarf und auf die steife Förmlichkeit der Akademien und
Konzerte Verzicht leistet, welche die müde Phantasie mit wechselnden
Bildcrn leicht anregt und umflattert? Jch sage nicht mit Bierbaum:
unsere Zeit hat Variöte-Nerven. Das ist die Sprache derjenigen, die
im Großen nichts verrichten können und es darum im Kleinen anzu-
^angen versuchen. Mich schreckt auch nicht die Warnung Panizzas vor
dem „Eindringen des Variete in den Klassizismus", denn geschichtliche
Einsicht lehrt, daß gerade unsere klassische Oper mit ihren Tanz- und
Singnummern, die klassische Suite, die Konzert- und Sonatenform vom
Geiste der delektiercnden Varietas durchweht und stilisiert worden sind, worauf
bas moderne Musikdrama oder die moderne symphonische Dichtung oder
das moderne Wirklichkeitsstück mit ihrem Streben nach organischem oder
streng sachlichem Gestalten fast keine Rücksicht zu nchmen pflegen. Eben
darum darf man heute von dem Bedürfnis nach einer bunten Klein-
stuist reden, die nicht ausschließlich sondern neben der großzügigen,

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