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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 7 (Aprilheft)
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Scholz, Wilhelm von: Leben in Wandlung: Aphorismen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0047

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2er Ältere sieht dcii Jüngeren rascher alkern, als dieser sich selbst altern sleht,
weil den Jüngeren, inöbesondere dein Kinde, die Zeit viel langsamer vergcht. Noch
größer wird dieser Gegensatz zwischen Geschöpsen verschiedener Lebensdauer sein,
etwa zwischen Mensch nnd Eintagsfliege. Daß dasselbe Stück Zeit etwas so ganz
DerschiedeneS sein kann wle der Tag für den Menschen und für das mit der
Nachttiefe sein Leben endende Jnsekt, kündet nicht nur die Relativität, sondern
fast schon die Unwirklichkeit der Zeit.

*

Nicht die Zeremonien der lebenentscheidendcn Vorgänge sind es, in denen das
Schicksal das Herz ani lelchtesten erreicht, am tiefsten erregt. Ungreifbar fluten
die Gefühle unseres Lebens umher wie Düfte im Fruhlingswehen. Plötzlich um-
streifen sie uns, hüllen sie uns in ihre süße Wolke ein — ohne daß wir ahnen,
woher sie kommen, oder Blüten entdeckcn können. Und sind verflogen, wenn wir
sie noch einmal atmen und recht tief in uns ziehen wollen. Wieder stehen wir oft
vor blühenden Bäumen und können den Duft nicht erhaschen, der doch dicht über
uns voller Biencn summt.

Niemand weiß, wann das Herz — sei es im Schreck, in Furcht, Hoffnnng oder
Freude — am vollsten klingt, wann alle sieben Ringe und Zwänge von ihm ge-
fallen sind, daß in seinem Schwingen der ganze Leib Herz wird. Mancher Ver-
brecher hört nnbewegt den Nichter ihm sein Todesurteil verkündigen. Und aus
dem tiefen Schlaf irgendeiner Nacht darauf, wenn die nachmitternächtlichen Sterne,
die zum Morgen führen, die Sterne des Unabwendbaren, am Himmel stehen,
stürzt er plötzlich aus seinem tiefen, jetzt auslöschenden Schlaf durch ein jähes Er-
wachcn hinauf in das Entsetzen, in dem sein Herz nun grausiger schlägt und klingt
als das Beil deö Henkers.

*

Jede Sache, der man sich „verschreibt", ist der Teufel.

Urteilen wir wirklich selbst über bedeutende Männer? Jhr gsschichtlicher Erfolg
oder ihr errungener Ruhm urteilt statt unserer, lenkt zumindest unser Urteil ab
und macht es befangen.

*

Es ist eine tragische Begabung für den Dramatiker, wenn er seine besten Ein-
fälle in der Form von Exposition und nicht von Katastrophe hat. Es ist der Fall
Bernard ShawS.

*

Wenn ein stummes Tier etwas von dir will, ist es nicht leicht zu verstehen.
Schwerer macht dir dein Leib begreiflich, was er verlangt. Am schwersten aber
verstehst du es, wenn deine Scele etwas von dir begehrt; du wirst vielleicht nicht
einmal aufmerksam nnd dir bewußt, daß sie etwas von dir will.

*

Das Unterbewußte — ein anderes Wort für unbewußte doch osfenbar seelische
Vorgänge — kommt zu seinem Namen und seiner merkwürdigen widerspruchs-
vollen Existenz dadnrch, daß es Leistungen, die in ihrer Art nur denen eines Be-
wußtseins gleichen, hervorbringt; Leistungen, die wir auf Seelisches zurückführen
müssen, trotzdem sich uns kein Bewußtsein als Ouelle dieser Leistungen unmittel-
bar bcmerklich macht und wir eS höchstens manchmal wie ein Stück Traum nach
dem Erwachen in unS, unter uns, hinter uns fühlen — aber keinen Jchpunkt des
verborgenen Bewußtseins entdeckcn.
 
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