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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 11 (Augustheft)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0352

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bar. Ooch crfahren wir sie in jeder schöpfe-
rischen Siunde, und wer ihr Opfer bcingk,
erweitert sie ins Ungeahnte.

Oie fatalisiische Lebensanschauung läßk sich
nicht folgerichtig durchhalten — daS wird
Jhnen ohne Schwierigkeit einleuchken. Sie
lähmt den, der wirklich an sie glaubt, weil
sie seiner eigenen Entschlossenheik jeden An-
trieb raubt. Wer an sie glaubte, müßte
schließen: WaS ich auch immer unternehme,
eS isi letzten Endes einerlei und kann mir
nicht zugerechnet werden, da offenbar die
Derantwortung für alle Sünde, alles Der-
brechen, alle Guttat und alles Heldentum
nicht dem Täter, sondern dem verborgenen,
vorherbesiimmenden Ursächer auferlegt isl.
Wie immcr ich mich gebahre — scin isi
Schuld und Verdiensi! Jn Wahrheit glaubt
daS niemand, und aller sogenannte Faka-
lismus ifi entwedec eine kurzsichtige oder
eine — vielleicht unbewußt — unwahrhaf-
kige Wendung deS Geisies. Es gibt jedoch
eine Ergebenheit in daS Schicksal, welche
sich gut verträgt mit siarkem Orang zu
selbfiverantwortlichem Handeln; nur isi cs
nicht recht, diesc gläubige Halkung „Faka-
lismus" zu ncnnen oder sie sachlich mit ihm
zu oerwechseln.

Wenn trotzallcdem fatalisiische Stimmun-
gen und Gedanken Diele mindesiens vorübcr-
gehend anwandeln, so isi das zurückzufüh-
ren auf cine Lebenserschcinung, die man
zuweilen stark in Geltung fühlt; ja, ich
glaube, daß auf dieseS Gefühl aller ältero
FatalismuS und alle originale Erneuerung
dieses Mcinens zurückgeht. Ich meine nichk
daS Mißgeschick. Die bittere Taksache deS
Mißgcschicks isi da und erfordcrt große
gedankliche Kraft, um sie eincm crträglichen
Weltbilde einzuordnen. Beispielweise ver-
mochte das älkere Griechentum dieses Ein-
ordnen nicht. Die Oidipus-Dichtung zeigt
vielmehr, daß eS sogar den bösen Willen,
den Neid der Götter zum Ursächer des Miß-
geschicks erhob — die psychoanalykische „Er-
klärung" der Widerfahrnisse deS Oidipuö
ändert daran nichts. Ooch will ich Sie nicht
mit dcm Problem deS Mißgeschicks auch noch
behelligen. Mir liegt vielmehr an eincm
Gedanken, den ein Alterer einem Jüngeren
wohl oft zurufen möchte und mit Sorge,
öfter und mit mehc Sorge, als tunlich isi.
Jch meine: daß es von einer gewisscn
Zeik an im Leben fortwährend „z u spä t"
isl. Das erfährt in sehr früher Jugend ein
Teil der Proletarier. Wie oft isl nicht ein
junger Arbeiter von zwanzig oder zweiund-

zwanzig Jahrcn zu mir gekommen: „Jch
möchte mir eine gcschlosscne Bildung er-
werben" (siillschweigender oder ausdrück-
licher Zusatz: „so wie die ()hre!"). Jch
habe nahezu Allen sagen müssen:„Wenn wir
sogenannten Gebildeten drci bis vier Jahre
Vorschule, neun Jahre mittlerer Schule,
vier bis sechs Hochschuljahre und eklicher
praktischer Lehrzeit brauchen, um »gebildet«
zu werden — glauben Sie, daß sich das
Ziel zwischen Zwanzig und Fünfundzwanzig
nebenher, ncben Ehe und Erwerbberuf
noch rasch erreichen läßt?" DaS isi nun
freilich die schleichendc Tragödie des Zu-
spät, denn diese Art von jungen Men-
schen gerät gänzlich schuldlos in diesen Zu-
siand und kann ihm nicht entfliehen. Aber
in abgeschwächter Art tritt der Fall Millio-
nen von Malen ein. Jmmerfort muß sich
ein Heranalternder sagen: DaS habe ich
leider nicht gelernt, und nun kann ich eS
nicht mehr. Gleichviel, ob cS sich um daö
bloße Denken, um Mathematik, Sprachen,
NaturerkenntniS oder um Entfaltung mehr
praktischer oder absirakterer Anlagen han-
delt — unauSgesetzt klingt das gleiche harte
Wort an unser Ohr: Oas gehk nichk mehr.
Nun brauchen Sie nur noch eines hinzuzu-
denken: daß nämlich die meisicn Menschcn
wohl der Tatsache innewerden, nicht abcr
ihreS Grundes: der DcrsäumniS im früheren
Leben. Sie sioßcn an die Grenzcn ihreS
KönnenS und klagen: Ach kann nicht; eü
geht nicht!, ohne sich bewußt zu wcrden.
daß eS wohl gegangen wäre, wcnn sic
früher darauf bedacht gcwcscn wären.
Sie begegnen einem schroffen Nein deS
Schicksals und hören nur dieö; die Wehmut
über versäumte Möglichkeiten bleibt ihncn
erspark wie auch der Antrieb, noch vor-
handne Möglichkciten kraftvoll wahrzuneh-
men. Sie empfinden Allcs als einfachc Ge-
gebenheit, als brutale Schranke — als vor-
herbesiimmt. Das isi der Ursprung dcs fata-
lisiischen GlaubenS.

Sie können sich leicht sagen, mit welcher
gewaltigen Derantwortung diescr Lebcns-
umsland alle Eltern belasiet: sie haben eS
zu einem großen Teil in der Hand, dem
Heranwachscndc» daS ErlcbniS des „Zuspät"
auf etlichcn Feldern zu crsparcn. Sie wisscn
auch, warum ich Jhnen so weitläufig dicse
cinfachen Gedanken mitteile. Sehr wenig isi
es, was der sogcnannte „Erfahrcne" dcm min-
der Erfahrcnen wirklich sagen und geben kann;
neigt jener zur Hochfahrendheik, dann ver-
schließt sich ihm vollends daS Ohr deS Jün-
 
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