Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

DOI issue:
Heft 12 (Septemberheft)
DOI article:
Schumann, Wolfgang: Liebe
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0375

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
XXXix-

Liebe

ie Welt ist voll Fremdheit und Feindschaft. Nichts kann sich je berühren. Das

klingt paradox. Doch auch die heißeste Umarmung, der leidenschastlichste Hände-

druck reißt nicht die heimliche „Wand", die Wand aus Nichts, ein, die zwischen
allem Etwas sich dehnt. Die lebende Substanz besteht aus Zellen, die Zelle aus
Atomen, das 2ltom aus Elektronen. Der kleinste Bestandteil aber ist noch ein schwin-
gendeS System, kein umrandeter Körper. Was einander in dem Dorgang sogenann-
ter Berührung nahekommt, sind schwingende Systeme, die sich vielleicht über den
Abgrund grüßen, nie wahrhast berühren. Alles ist einander undurchbrechbar sremd.
Einsam wie die Seele ist die „Materie".

Daß Feindseligkeit durch das All waltet — braucht das noch des Beispiels? Feindselig
zertritt und verzehrt daS Tier Tier und Pslanze und den Menschen, der Mensch
den Menschen, daS Tier und die Pslanze. OrganischeS und Unorganisches wird unaus-
hörlich leise zersetzt, zernagt, verwüstet; in großen und kleinen KataklySmen
zerstört; der Fixstern, der im Zusammenprall mit dem Firstern flämmend
vergeht, wie das Gebirge, das Wind und Wasser abnagen, das Gras,
das Beute des Steppenbrandes wird, wie der Mensch, öen der Tod vernichtet.
Je höher das organische Leben sich entfaltet, um so leichter erliegt eS den seind-
lichen Mächten der Bernichtung. Nichts stirbt lcichtlicher als der Mensch; und wenn
das einsachste Zellwesen noch halber Unsterblichkeit genießt, so gönnt die wilde Welt
dem Menschen kaum noch die abgeblaßte Ahnung davvn.

Doch so eindruckvoll jedes wahrhaftige Weltbild von Fremdheit und Feindschast
zeugen möge, wir wüßten davon nichts, wenn wir nicht auch allenthalben und immer-
fort des Gegenteils inne würden. Nur durch Entgegensetzungen begreifen wir Setzun-
gen, nur durch das Borhandensein deS Jaenden wird uns das Neinende sichtbar
und benennbar. Wo Feindschaft und Fremdheit ist, ist auch deren Gegenteil: Be-
sreundung und Nahheit. Beide aber kennen wir wie alles aus eigenstem Erleben. Wir
ersahren Einsamkeit und Frcmdheit und Haß, Mehrsamkeit und Freundschaft und
Liebe. Bon diesen allen aber erleben wir Liebe als höchste Macht, wohl geeignet, den
Widerkrästen der Welt die Spitze zu bieten, das Gleichgewicht herzustellen, in dessen
Schalen das All schwingt. Denn dies ist es, was Liebe in der Gegenwart leistet.
Man spricht von Flichkraft und Abstoßung, doch auch von Hindrang und Anziehung,
von Unvcrbindbarkeit und von Affinität der Elemente, vom Kampf ums Dasein und
von gegenseitiger Hilse, von Krieg und Frieden.

Eine lebensgeschichtliche Berknüpsung hat eS verursacht, daß Liebe häusig in nächste
Nähe eineö anderen Erlebnisses gerückt wird: des Geschlechtserlebnisses. Man spricht
seit Schopenhauer zuweilen von der „List" der Natur, welche die Liebc stifteke, um die
Fortpflanzung zu sichern. Doch man könnte es auch umgekehrt sehen. Früheste Fort-
pflanzung geschah, indem Organismen sich teilten; aus einS wurden zwei; zwei
gleichartige; es ist der Bereich der „unsterblichen" Lebewesen und zugleich der öden
Einartigkcit. Bald genug wurde die Ausgabe der Fortpflanzung zweien übergeben,
zwei gleichartigen von verschiedener Art; aus zweien wurde nun eins. Um je zwei
Gleich- und Berschiedenartige zur Paarung anzueifern, vermehrt und erweitert sich

Septemberheft 1926 (XXXIX, 12) ZZZ
 
Annotationen