Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Liebe
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0376

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
der Lebensstrom um emen gewaltigen Strahl; wlr nennen ihn „Geschlechtstrleb".
Aber die innewohnende Krast alles Lebens, sich zn mehren, zu entsalten, verharrt dabei
nicht. Melmehr begibt es sich, daß Paarungstrieb sich zu weit nmher spielendem,
unvorhersehbar über den Zweck hinaustreibendem Lusttrieb erweitert, und zuleht ent-
saltet sich aus der Zwiesamkeit der Geschöpse ein abermals neuer Trieb, der nrsprüng-
lich mit Paarung nnd Lustgewinn enger verschwistert austrat: Liebetrieb. Wer nun
am Stiften solcher Beziehungen der Borgänge auseinander Freude hat, dürste wohl
sagen: daß Fortpslanzung an die Zweiheit und Paarung und an den Geschlechtstrieb
gebunden wurde, hatte den Sinn, dem Menschtum die Liebe zu offenbaren und sie
zu ihr allmählich hinzuleiten: die „List" liegt nicht im Gebrauch der Liebe zur Fort-
pslanzung, sondern in dem der Fortpflanzungstechnik zur Erweckung der Liebe! Das
Ziel liegt nicht im Frühercn und Einfacheren, sondern im Späteren und seelisch
Fruchtbareren. Die Natur kannte schon Fortpflanzung, als sie die Liebe erst
als ZukunstStraum voraussah, sie „branchte" keine besondere Mechanik, um jene
zu veranstalten und zu sichern; wohl aber bedurste sie deS blnterbaus nnd Einsührungs-
mittels für das überwältigende und schwerwiegende Erlebnis der Liebe!

Auch Liebe ist paradox, sosern wir daS Wahrscheinliche suchen im gewaltig Lor-
herrschenden. Jn uns waltet das Zweckhast-Jntellektuale und Begehrende. DaS Kind
erwacht zum Leben und erössnet sein Dasein mit Begehren. Furchtgetrieben, von
Begehren gespornt, lernt es die Grisse und Maßnahmen, die zur Befriedigung seines
Selbsterhaltung-, Macht-, Geltung-, Geselligkeittriebes dienen. Früh genug regt sich,
allem Zweckstreben die Mittelkräste erregend, der Wissenstrieb, srüh der begehr-
liche Lusttrieb. Langsam und spät erwachen, wie in der Menschheit so m ihrem ein-
zelnen Gliede, Liebe- und Bervollkommnungtrleb. Liebe aber, einmal losgelöst von
Lust- und Geschlechtbegehren, die sie wecken halfen, brlngt das grundsählich Ncne
ins Spiel: Entäußerung, Nichtbegehren und dennoch Wirken! Denn cben darin, eben
in 'diesem Unwahrscheinlichen und Neuen vollendet sie sich, daß sie das daseinslüsterne
Jch, unser zweckbegchrendes Wesen anhält, ureigene Zwecke hintanzusetzen und einem
Dienst sich zu unterziehen, der allem gilt, nur nicht dem eigenen Wesen. Auf viele
Weisen kann die Liebe im Einzelnen geweckt werden. Nahe kommt ihr die Summe der
Assekte, die Kinder den Eltern, Eltern den Kindern entgegenbringen; freilich spielt
um dieses Berhältnis viel dichterisches Bedürsnls, viel Wunsch nach verschönernder
Fälschung der Erde; da wird Mutterliebe als die „reinste" und tiefste des Lebens
gepriesen, dankbare Kindesliebe mit viel Worten verherrlicht, das ganze Berhältnis
inS Himmelblau hinaus idealisicrt. Jn Wahrheit ist das innere Berhaltcn der Kinder
zu den Eltern keineswegs reine Liebe, vielmehr bis ins Jnnerste von Zweckhastigkeit
diktiert, und nicht allzu selten wechselt das kleinere Kind harmlos und reuelos den
Gegenstand seiner vermeintlich so unauswurzelbaren „Liebe", wenn andere Erwach-
sene als die Eltern ihm mehr Schutz, Nutzen, Bcrgnügen, Borteil zu bieten scheincn.
Don selber hört hunderttausend Mal Kindesliebe aus, wenn gemäß sozialcr Ge-
wohnheit das zweckhafte Familialverhältnis sich löst nnd sich die Bande des Borteils,
der Autorität usw. nicht rechtzeitig in solche frcier Frenndschaft verwandelt haben,
— was möglich, aber immerhin seltcn ist. Bollends kennt jeder Klarblickende das
Familialverhältnis als Duelle unauslöschlichen Hasses. Lediglich die Konvcntion des
Familienkultö, in der wir noch immer dahinleben, sordert eine andere Ausfassung
dieser natürlichen Lebensvorgänge, zetert über Undank, spricht von mangelndem Gefühl
und widernatürlichem Empfinden — und meint unwissentlich doch nur, daß
etwas auf natürliche Art absinkt, was tatsächlich den biologischen wie den sozialen
Zwecksinn verloren hat, oder daß auf höchst begreifliche Art Leidenschaftcn empor-

334
 
Annotationen