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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 8 (Maiheft)
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Poensgen, Georg: Die "Neue Sachlichkeit" in Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0128

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Zu alledem gehörte Zeit'. zum Schauen, lL)enken und Ersühlen. Heute haben wir
keine Zeit mehr. Wir wollen etwaS sehen, das nns sosort einleuchtet und daS uns
zugleich verblüfst. Dabei hat uns der Sinn sür das Phantastische in der Wirk-
lichkeit — das Wiedererwachen von Gefühlsmomenten inmitten von kühlstem
Realismus — empfänglich gemacht sür solche Darstellungen, die der Nüchternheit
unseres Jndustrie- und Geschäftslebens künstlerische Reize abgewinnen, ohne senti-
mental zu sein. Und wir sind dankbar und kindlich ersreut, wenn jene krankhaste
Skepsis, die wir allen Neuerscheinungen in der Kunst erziehungsgemäß entgegen-
bringen, vor der Eindeutigkeit und Originalität der Bestrebungen Legers und
seiner Genossen endlich einmal verstummen kann.

Jhre Kunst ist natürlich auch nicht plöhlich vom Himmel gefallen. Sie entwickelte
sich langsam und solgerichtig auS den kubistischen Abstraktionen der letzten Zeit.
Schon vor mehreren Jahren, als bei uns Klee aus der Höhe seines Nuhmes stand,
schusen Picasso und auch schon Leger geometrische Zerlegungen von gegenständlichen
Eindrücken, die dem Geist der Neuen sehr nahe kamen. Es waren gleichsam Aus-
lösungen der traditionellen Formwiedergabe, die nach neuer Gestaltung verlangten.
Picasso macht sie auch heute noch gelegcntlich und mit ihm eine große Schar seiner
Epigonen in aller Welt. Der grundsätzliche Unterschied dieser altertümlichen Zer-
legungen gegenüber dem jetzigen Leger nnd seinesgleichen liegt in dem Gewollten,
Planmäßigen ihrer Konzeption. Jene gehen vom Gedanklichen aus, wo, sinngemäß,
die Jungen vom Sachlichen auSgehen.

Jn Deutschland, wo, von ganz wenigen Künstlern (wie etwa dem Düsseldorfer Max
Ernst) abgesehen, die Maler noch immer mit Problemen ringen, die längst dcr
Vergangenheit angehören, spürt man in letzter Zeit auch, daß etwas Neues kom-
men muß. Und schon hat man charakteristischerweise das Schlagwort dasür geprägt:
die „Neue Sachlichkeit". Eines Tages wird sie bei ims Mode sein, wenn der Be-
griss erst populär geworden ist. Jhren Ursprung hcit sie in Paris ^—- das dürseu
wir nicht vergessen. Eö ist wieder jenes Unbefangene, Spielerische des sranzösischen
Temperaments, das diese neue Richtung selbstverständlich und leicht sich entwickeln
ließ und ihr von vorneherein alles Krampfhafte nahm, dessen wir Deutschen,
schwerblütig und allzu verantwortungsvoll, uns nur so selten entledigcn könucn.
JedeS Volk hat seine Aufgabe in der Kunstentwicklung. Wie schon so ost werden
wir Deutschen auch der neuen Wirklichkeitsmalerei erst die Wege ebnen und ihr die
Seriosität und Dauerhastigkeit sichern, wenn die Franzosen nach den ersten guten
Ansängen ihrer müde geworden sind.

Fernand Leger, der eigentliche Bahnbrecher des „Essort Moderne" (wie diese
Kunstweise in einer gleichbenannten, von Lconce Rosenberg redigicrten Zcitschrift be-
titelt wird), ist von allen Künstlern seiner Gruppe noch am meisten nüt der Ver-
gangenheit verwachsen. Für ihn ist die Natur eine funktionelle Angelegenheit.
Alles greift zweckvoll ineinander, wie die Glieder einer großen Maschine. Der
Mensch, körperlich und geistig eine Funktion seiner Organe, ist, wie jeder Gegen-
stand, Teil dieser Maschine. Er ist seiner Umgebung, die er selbst nach seinen Be-
dürsnissen gestaltete, verpflichtet. Sie drängt sich um ihn und spiegelt ihn: daö
Produkt seiner Zeit. Die kleinste seiner Bewegungen, ein körperliches wic geistigcs
Ereignis, hat schweres Gewicht und bildet, zuständlich sestgehalten, ein Darstel-
lungSobjekt von gleicher Bedeutung und Jntensität, wie die rassiniertesten Still-
leben oder gar weite Landschasten. Und aus der Fülle der Ereignisse herauügc-
grissen, vermag die unauffälligste Handlung daö Weltganze zu kennzeichnen. Bei-
spiel: auö einer Siphonslasche, die eine klobige Männerhand bedient, zischt der
Wasserstrahl in ein Kelchglas. Hintergrund: Maschinentcile, Gradmesser, Spulen,
Bolzen, senkrechte und wagrechte Eisenstangen — willkürlich zusammengestellt.
 
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