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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 10 (Juliheft)
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Kahane, Arthur: Vom Bildersehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0239

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gehören, die sich dem WorLe entziehen, wenn wir ganz Auge, ganz nnr ehrfürchtige
Schau vor dem Kunstwerk stehen?

Man könnte es freilich, um dem Wort gerecht zu werden, auch so sagen, daß auch
das Schweigen in das Reich des Wortes gehört und vielleicht das höchste seiner
Ausdrncksmittel darstellt, das einzige, daS sich den höchsten Augenblicken des
Lebens gewachsen erweist.

Es ist natürlich fatal, so viel über das Schweigen reden zu müssen, aber wie soll
man es sonst seinen Mitmenschen begreiflich machen, daß sie vor Bildern nicht
sprechen, sondern fchauen sollen?

Schauen, fchauen, nichts als schauen. Nicht hören, was rechts und links gesprochen
wird! Nicht daran denken, wie du deinen Eindruck formulieren wirst! Nlcht kriti-
sieren! Nicht an dich denken! Nicht an andere Bilder denken, die du gesehen hast!
Nicht vergleichen! Nicht schwindeln! Nicht dich in eine Ekstase hineinreden, bevor
du sie empfunden hast! Nicht einer Suggestion nnterliegen und nicht dich gegen
eine Sensation zur Wehr setzen! Nur schauen! Mit deinen leibhaftigen Augen
fchauen! So intensiv, so konzentriert fchanen, als ob es nichts auf der Welt gäbe
als dieses Bild! Du bist ganz allein auf der Welt mit ihm. Dieser kleine Aus-
fchnitt ersetzt dir alles. Jhn mußt du haben. Wie der Liebhaber die Geliebte. Nein,
denke nicht an den Liebhaber, denk nicht an dich, dazu hast du nicht die Zeit, denk an
das Bild! Denk gar nicht, schau! Du brauchst ja nichts, wenn du diese
Farben erlebst. Was willst du denn noch? Aber erleb sie auch! Gib dich
ihnen hin! Vergiß alles und gib dich hin! Was? Jst es ein Raufch der
Augen, der über dich gekommen ist? Das macht nichts: in diesem Rausch ist Wahr-
heit. Oder schon ein Raufch der Seele? Zu früh. Noch brauchst du die inneren
nicht, noch brauchst du deine beiden äußeren Augen. Mach sie so kalt und klar nnd
sachlich wie du kannst! Noch brauchst du alle Organe deines Schauens. Auch deine
Dernunft. Du mußt mit allen deinen Organen und mit allen deinen Kräften sehen,
der ganze Menfch muß sehen. Du mußt sehen, wie die Maler sehen, und du mußt
sehen, wie die Kunsthistoriker sehen, aber nicht eins oder das andere, sondern beides.
Alleö, was du in dir hast, waS du kannst, waS du weißt, was du von der Kunst
weißt, was du vom Künstler weißt, was du von des Künstlers Zeit weißt, was du
von deiner eigenen Zeit weißt, muß dir sehen helfen. Nur trag nichts ins Blld hin-
ein! Es steht alles drin. Und mit deinen tausend Augen mußt du es sehen. Du
mußt das Ganze sehen und dn mußt alle Teile sehen und mußt das Ganze in allen
Teilcn sehen. So genau mußt du sehen, bis du mit dem Bild verwachsen bist, bis
das Bild ein Teil von dir geworden ist, zu dir gehörig wie deine Hand und dein
Auge, und du ein Teil von ihm, bis du's auf der Netzhaut deines inneren Auges
hast; bis die große Verwandlung gelungen ist und du nicht mehr
du bist, sondern der Künstler selbst, der Künstler in der Stunde
der Empfängnis.

Dann wirst du die Landschaft erleben, wie sie nur einmal war, in ihrer großen
Stunde, da der Künstler sie so sah, so nackt wahr und so bis auf den Grund ihres
eigentlichen Seins, und so wirst du den Leib der Frauen erleben, und so die Ge-
sichter und den Geist und daö Leben der Männer, und so Geschehnisse und fromme
Wunder und Dinge und Blumen, alle in einer Stunde aufgefangen, die vielleicht
ihre eigentliche war und die ihnen vielleicht nie wieder gekommen ist, aber für immer
bewahrt in dem Bilde des Malers und im Bilde deines Schauens.

Dann wirst du darum wissen, wie das Erlebnis einer Seele zu Form gerinnt, nnd
wirst daö Geheimnis ahnen, warum der Künstler, um die Gnade einer starken Stunde
auszusprechen, so malen und so seine Farbe aufsetzen mußte, just so und nicht
 
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