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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 10 (Juliheft)
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Viertel, Berthold: Das Theater ist tot! - Lang lebe das Theater!
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0243

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zuletzt auch nc>ch die moderne Psychologle mit ihren tausend Augen und Spiegelchen,
eine Gesellschaft ableuchtend, die smmer noch am Leben zu sein vorglbt. Mlt dem
Blldungstheater gehe auch das Gesellschaststheater dahin.

Wohl deshalb, kann man den Pesslmlsten an dleser Stelle sosort antworten, tveil
beides, BildungStheater und Gesellschaststheater, auf demselben Grunde rvuchs, der
bedenkllch zn wanken begonnen hat: nämlich aus dem Fruchtboden der Gesellschaft,
dle zuglelch die Blldung besaß. Diese Gesellschast Ist In Auflösung begrissen. Man
sieht sie im Theater, schon im Zuschauerraum der Theater, gar nicht mehr so, daß
si'e ein geschlosseneS Bild ergäbe. Als Publikum, als Auslese eines Großstadtpubli-
kums von heute insbesonders, versammelt sie sich nur mehr zu Symphoniekonzerten.
Als gemischteres, neuartiges Gemenge hilst sie die Filmpremiere und das Box-Meeting
entscheiden. Daö Theater ist dieser Gesellschast als Klasse zu teuer geworden, oder
vielmehr, cs ist ihr nicht genug teuer geblieben. Das Konzerk, die absolute Musik, be-
währt sich immer noch als Tresf-Punkt einer alten Menschen-Auslese; hier begegnet
man den edelsten, seinsten Gesichtern und Köpsen, einer ungeschworenen Kennerschast
des Dhres, die sich auf langem Wege entwickelt hat. — Der Film aber und der Box-
Kamps, als das Bolksfest eines neuen Gladiatorenspiels, haben ein jüngeres Publi-
kum, das durch zwei neue Entwicklungen, die techmsche und die sportliche, herange-
sührt wurde. Man mag streiten, ob solche Erscheinungen in einer Erörterung von
Kunstangelegenheiten überhaupt berührt zu werden verdienen. Daß sie aus die Frage
nach dem, was heuke ein Publikum bildet, erschreckend oder eindruckvoll, aber jeden-
salls sehr überzeugend antworten, ist gar nicht zu bezweifeln. Man muß, wenn man
diese Zeit, und in dieser Zeit diese Frage (welche zugleich auch eine Frage nach der
Lebensfähigkeit, ja nach der Lebensberechtigung des Theaters ist), beurteilen will,
unbedingt miterlebt haben, wie ein Borkamps, der um eine große „Meisterschast"
geht, auS den Zehntausenden e i n fühlendes, bangendes, mit dem gleichen Herzschlag
lcbendes Riesen-Geschöps macht, und zwar einen riesigen Kenner und Kampf-Richter.
Jch würde so eine Gesamtheit gewiß nicht „das Volk" nennen; denn zu dem Begrisf
des Volkes gehört mir die Gemeinsamkeit der höheren Jdee. Aber ein Publikum ist
es, weiß Gokt; und was sür eines! Das modernste Publikum der Welt.

Dom alten Publikum des Theaters sind Biele ausgesprungen und abgefallen, weil
sie im heutigen Theater, wie vielsach und kaum mit einem Namen zu nennen es auch
sei, vermissen, was sie im Theater von gestern befriedigt hatte: das unbesorgt zu-
strömende Sinnenglück deS Jllusionstheaters, welches ohnehin längst einem
technisch ernüchterten Dasein nur dcn Schatten einstiger Magie geboten hatte. Jn
riner gewisscn Unbesorgthcit und Ungebrochenheit der Jllusion, welche aus dcr Bühne
die Welt der Dorstellung als gläubig hingenommen und sraglos erlebte, magisch
gespiegelte, höhere Wirklichkeit genoß: läßt sich das Gemeinsame ansprechen, das
den Glanz und Pomp der Meininger mit der durchseelten Nüchternheit bei Brahm
verband und zwischen diesen Gegenpolen eine geradlinige Überlieserung, von uns aus
gesehen, herstellte. (Erst bei Reinhardt kam der Bruch, der aber noch keine grund-
sätzlich entscheidende Bedeutung hatte; obwohl die besondere Problematik der Stil-
mischungen und die Ersindung der Regie als Selbstzweck bereits das Herankommen
einer Krisiü ankündigten.) Die mit Hilse solcher Jllusion gewonnene Harmonie
zwischen Bühnc und Leben war nicht nur eine ungestörte Sinnenfreude, sondern auch
ein Seelenglück, wie jede Gläubigkeit. Zu einer bestimmten Art von Gläubigkeit
waren Auge und Dhr, und nicht zuletzt die Vernunst, so lange und so vielsach erzogen
worden; mit Gläubigkeit, Glaubhastigkeit, Sinnenfälligkeit war das Publikum ver-
wöhnt worden. Erst als diese Glaubenskraft, diese Geschlossenheit der Einsühlung
schwächer wurde, begann sich das Ensemble aufzulösen und aus dem Lieblingsschau-
spicler der modernc Star hervorzutreten. Das Startum des Spielers und das Star-

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