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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 12 (Septemberheft)
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Schumann, Wolfgang: Liebe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0378

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des Gesetzes der Gerechtigkeit — freili'ch einer überzeitlichen Gerechtigkeit —, des
Gesetzes der Liebe. Dies heißt eö, wenn man sagt: er entänßere sich seiner selbft, er
entpersönli'che sich. Er sncht die Dollendung sei'ner m'cht mehr im Erlangen belang-
loser Zweckc, sondern im Erfüllen des Gesetzes.

WaS aber bedentet und bewirkt Li'ebe im Haushalt der Welt? Oder — wenn
wir davon absehen, vereinende und bindende Kräfte der anorganifchen und der
pflanzlichen und tierifchen Welt als „Liebe" zu deuten — was bewirkt sie im Dasein
und Werden der Menfchheit?

Auch in diesem Felde hält sie zunächft das Gegengewicht gegen die trennendsn
und verfeindenöen Gewalten. Kein voller Lebenstrieb ift aus dem Menfchenleben so
leicht wegdenkbar; ohne Selbfterhaltungstrieb kann sich niemand Leben vorftellen,
ohne Gefchlechtstrieb ftürbe unsere Gattung aus, ohne Machttrieb bliebe die Masse
Qmorph und unorganisiert — eö hält schwer, sich überhaupt auszudenken, wie alles viel-
leicht aussähe, wenn ein solcher Motor ausfiele. Jmmerhin ift auch der unzulängliche
Dersuch lehrreich. Ohne Liebe, soviel ift gewiß, würde das Menfchtum eines der
ftärkften Antriebe zu fchöpferifcher, organisatorifcher und entwickelnd-erziehender Arbeit
entbehren. Ein gewaltiger Teil der Kunft, der sozialen Leiftungen einfchließlich der
Wissenfchaft, der Religionen würde mit der Liebe aus der Gefchichte zu ftreichen
sein. Der Umgang der Menfchen und Menfchengruppen miteinander aber wäre
faft befchränkt auf zweckhaftes Derhandeln, Einander-Übervorteilen und Einander-
Berauben, auf eine barbarifche Brutalität, wie sie denn zu Neandertalerzeiten ge-
herrfcht haben mag, da wir nicht annehmen, daß Liebe fchon im heute bekannten
Ausmaß mit dem erften Schritt vom Tier- zum Menfchtum erwacht sei. Wohl
möchte ein besonders Denkfähiger einmal auf die Möglichkeit verfallcn, es sei zweck-
mäßiger, gut zu sein als kalt und süchtig-böse; doch wie das Wort „gut" mindeftens
im Si'nne großzügiger „Güte" fehlen würde, so würde dem Rat, gut zu verfahren,
die Kraft ermangeln. Denn der Wille vermag nicht viel ohne Jntrieb aus tieferen
Schichten als sein Wurzelgebiet eine ift, am wenigften gegen die begehrenden Triebe.
Schal, kalt und barbarifch, dazu nur wenig im heutigen Sinne fchöpferifch wäre ein
Leben ohne Liebe — Strafe und Belohnung müßten erpressen, was sie freiwillig schafft,
und würden in Jahrtausenden nicht den Teil des Teils von dem vollenden, was
sie als Kraft eines Einzigen >'n einem Menfchenalter vollbringt. So wenig wie ein
solches Leben uns Heutigen auch nur vorftellbar ift, so wenig kann es einem Ein-
zigen unter uns — lebenswert erfcheinen.

Aber wenn sie fchöpferifch, sozialorganisatorifch, menfchenverbindend, persönlichkeit-
entfaltend wirkt, in alledem erfchöpft sich Liebe nicht als blrkraft der Erde. Durften
wir sagen, daß sie das Weltbild ihrer Träger wandelt, so daß einzig der Liebende
des Maßes von wahrer Einsicht teilhaft wird, das unS befchieden ift, so ergibt sich,
daß Liebe eine objektiv führende Kraft ift: sie ermöglicht den Weltbegrisf, aus dessen
Kenntnis heraus wir allein weltgesetzgemäß handeln können. Was dem Liebenden,
sofern er nicht fchwächlich-gütig, sondern mit der Kraft deS Schaucnden und der
Härte des Gesetztreuen liebt, fremd und widrig ift, das ift in jcdem Betracht
griff oder Sünde. Was er in und aus der Bollkraft seiner Liebe tut, ift Vorbild.
Zu dem Weltbild indeö, welches die Liebe uns fchenkt, gehört nicht allein Bergan-
genheit und nicht allein Gegenwart: auch die Zukunft. Ein Weltbild befteht
m'cht aus einer erkannten Fülle einzelner Gegenftände, Dorgänge und Tatsachen, es
beruht vielmehr in der begrenzten Zahl der Gesetze, auf die der ewige Wandel
zurückführbar ift; Gesetze aber erftrecken sich wirkend dnrch den Zeitraum auch in
die kommenden Äonen. DaS Wenige, was wir vom Kommenden „wissen", erlangen

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