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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 12 (Septemberheft)
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Bruns, Marianne: Leidenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0390

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krafk hat sich auch unser Jnkeresse verschoben. Wenn wir von Liebe schreiben,
so steht nicht mehr die todvertoandte Leidenschast im Mittelpunkt, sondern das
psychologische Derhalten in Bezug aus Erotik (Novellen um Claudial); Scham^-
überwindung wird zum Problem. Es geht nicht um Leidenschaft, es geht um die
Frage der Freiheit in der Ehe und um ähnliche Dinge. Bielleicht gibt es schon
Ansänge einer neuen, stärkeren Kunst, eines neuen, stärkeren Geschlechtes. Berbreitet
und allgemeingültig sind sie noch nicht.

Wie aber sollte der moderne Mensch der Leidenschast begegnen? Er sollte sie als
Motor in sein Leben einbauen. Es gibt vielleicht keine stärker durchlebte Leidenschast
als die Goethes für Frau von Stein. Da sie ohne Erfüllung blieb, war sie umso
schwerer zu bewältigen. Und doch wurde si'e bewältigt. Nicht nur das: sie wurde
dienstbar dem höchsten Derlangen des Menschen, der Selbstvervollkommnung. Reicher
als je sür eine Frau erschloß sich für diese die Welt; sruchtbarer als je ein Mann
unterstellte sich dieser jeglicher Forderung, die seiner geistigen und seelischen Krast
begegnete. Und erst in dem Augenblick, in welchem Leidenschast tyrannisch wurde
und hemmend statt aufbauend, entzog er sich ihr mit der zähen Gewandtheit und
Besonnenheit, die aller ihrer Mittel durch Selbstzucht gewiß geworden ist. Er entzog
sich ohne Brutalität; er floh nach Jtalien, nicht in der Meinung und Absicht,
der Leidenschaft zu entsliehen, sondern sie auö der lähmenden Übermacht zu drängen.
Daß dabei nach der Rückkehr die Liebe erlosch, war seine Schuld nicht.

Man kann nicht BerhaltungSmaßregeln sür das Leben geben. Abgegrenzte Grund-
sätze sich einzuprägen ist unnütz. Nützlich ist allein Bereitschast. Man kann durch
Wunsch- und Borstellungskraft eine bestimmte Haltung sich aneignen, durch wache
Umschau den Blick schärsen.

Leidenschast verleugnen, sliehen oder ergieren, es ist alles gleich töricht und gleich
schwach. Die Augen vor der Gesahr schließen, wendet die Gesahr nicht ab. Bor
dem Erlebnis sliehen, stärkt die Krast nicht. Nur die Sklaven naschen von der
Mahlzeit, weil sie sürchten, anders leer auszugehen. Die Herren warten, bis sie gar ist.
Wir müssen das Bewußtsein in uns wachhalten, daß Selbstvervollkommnung der
Sinn ist, um dessentwillen wir aus diese Erde geboren worden sind, und daß Leiden-
schast für diesen Sinn unseres Seins nicht nur Gesahr bedeutet, sondern auch Nah-
rung. Wir müssen unser Leben als ein elastisches Kunstwerk gestalten, in welchem
Leidenschaft nicht eben mangelt, ehe sie kommt, aber Raum hat, wenn sie erscheint,
und das sich unzerrissen schließt, wenn sie wieder vergeht. Sie darf nicht wie
ein Fremdkörper einbrechen, sondern muß organisch, wie ein werdendes Kind durch
den Frauenkörper, durch unser Leben gehen können. Dazu ist notwendig, daß wir
uns sühlsam und unverstarrt erhalten, daß wir uns stählen in Selbstzucht und immer
wach uns üben in Menschenkenntnis und Gottahnung, dazu ist notwendig, daß
wir unser edles Selbstbewußtsein niemals versinken lassen im Strom der Leiden-
schast. Sich selber recht sühlen im Getriebe des ungeheueren Lebens, Gott fühlen und
die Richtung zu ihm, und stets eingedenk sein, daß der Wege zu ihm viele sind,
ist die einzige Dorbereitung, die wir tressen können. Möge dann der Mensch uns
begegnen, dem bestimmt ist, daß er uns umgestaltet und erschüttert wie keincr sonst:
Wir werden wissen: was auch geschehe, sei es Seligkeit oder tödlicher Schmerz
(es wird beides sein!): es ist nicht das Letzte. Es ist nur eine Begegnung aus dem
Wege aus der ureigenen Geburt in den ureigenen Tod. Weshalb wir diesen Weg
gehen, wissen wir nicht. Wir glauben nur, daß wir den Sinn erfahren werden, wenn
wir uns der Lebenskraft surchtlos anvertrauen, die unS antreibt, ihn zu gehen.

Marianne BrunS
 
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