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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1913)
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Schumann, Wolfgang: Ludwig Wüllner
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0031

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Ludwig Wüllner

-ir siird durch unsere gesellschaftliche Erziehung und Stellung
^daran gewöhnt — aber ist es nicht eine seltsame Latsache, daß
ern erwachsner Mann vor vielen unbekannten Menschen eine
Menge von Liedern nacheinander singt, deren Stimmungen wechseln?
Und dies geschieht nicht spontan, froh, hingerissen, sondern zu längst be--
stimmter Stunde, nach Programm, gegen Honorar, nicht „bei Gelegenheit"
sondern selbstzwecklich, — ist man nicht versucht, das absurd, lächerlich,
unnatürlich in höchstem Grade zu finden? Es gibt durchaus künstlerisch
empfindende Menschen, die Gesang nur als freien, gesteigerten Ausdruck
eines spontanen, reichen Innenlebens nacherleben mögen, nicht als bewußte
Kunstbetätigung, so daß sie das Konzertsingen trotz jener gesellschaftlichen
Gewöhnung leicht abschreckt. Und obwohl dieses Gefühl vor der Kritik
des unterscheidenden Verstandes sich nicht behaupten kann, zersetzt es sich
in ihr doch auch bei uns nicht restlos. Wir gestehen ihm vielmehr in ge--
wissen Formen ein relatives Recht auf das Dasein zu, und wir erkennen
es leicht als dasjenige Gefühl im Zuhörer, welches dem „Lampenfieber"
des Konzertgebers entspricht; wer öffentlich singt, bemerkt in seinem eignen
Auftreten leicht selbst etwas von einem ungeheuerlichen Wagnis, und ob--
zwar er sich frei entschlossen hat, sich dessen zu unterwinden, kann er
sein Gefühl doch nicht unterdrücken — er hat Lampenangst; wir haben
das gleiche Gefühl des Seltsamen, überwinden es ebenfalls nicht restlos,
haben aber nicht Furcht, sondern nur eine mehr oder minder unklar
fühlbare Antipathie gegen das Konzert, mag diese immerhin bereit sein,
bald genug in Shmpathie umzuschlagen. Iedenfalls fällt dem Sänger
die schwere Rollc dessen zu, der diese Gefühle völlig überwinden, ver-
nichten, auswurzeln muß in sich und in uns. Deswegen schon möge
jeglichem öffentlich Auftretenden ein etwas „gezwungen" scheinendes Ge°
haben verziehen werden. And es kann keineswegs immer als Vorzug
gelten, wenn einer mit frisch-fröhlich naturburschenhaftem Auftreten über
diese berechtigten Gegengefühle hinwegschreitet. Entweder hat er diese
Gefühle, und dann ist das frohherzige Dreinschauen nur eine Maske und
nicht einmal eine passend angebrachte sondern eine irreführende, oder
er hat jene Gefühle nicht — nnd dann wird er vielleicht oberflächliche
Kunst mit Glück vortragen, aber das tiefe Verinnerlichen und Versenken
in ein Lied höchster Kunst wird ihm ebensowenig gegeben sein wie das
feine Gefühl für das Scheinunmögliche seiner Lage. Er wird „natürlich"
sein, aber seine Natürlichkeit wird nicht zur Gestaltung der organisch
reicheren Kunstwerke hinreichen. Sind doch viele unsrer Kunstlieder eben--
falls nicht allein aus gesteigertem spontanen Erleben heraus (das als
solches allenfalls der Aatürlichkeit noch zugänglich wäre) geschaffen,
sondern als Kunstwerke, deren kunstmäßiger Vortrag dem Schaffenden
selbst durchaus als erwünscht erschien. Und so ist denn diese „Natürlich-
keit" keineswegs ein unabweisliches Ideal für einen Liedsänger. In
Wahrheit wird ein großer Vortragkünstler dieser Art sich schon in früher
Iugend vom „natürlichen" Vortrag entfernen, dann eine mehr oder minder
lange Periode durchmachen, während deren er durch eifriges Nachdenken,
Einüben und Ausproben seiner Mittel, Ziele und Wirkungen sich be°
wußt ist (abgesehen von dem notwendigen Kräftezuschuß durch die Ein°

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