Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1913)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Was interessiert Europa?
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0204

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

Iahrg.26 Erstes Februarheft 1913 Heft9


Was intsressiert Europa?

^-^angsam zusrst, da- und dorther, wie sich's bei sorgsamer Zensur
^E»on selber versteht, sind vom Kriegsschauplatz Nachrichten von
^"Greueltaten der Bulgaren, 'Serben und Griechen zusammen-
geflossen, die jetzt durch diese Faschingszeit dampfen, wie ein Strom
von frischem Blut. Von fünfundzwanzigtausend Morden spricht einer,
andere meinen, das lange höchstens für die Serben allein. Meinen,
wir sähen falsch, wenn wir uns durch dies alles ans Mittelalter er-
innert fühlen, denn in sechs Tagen der Gegenwart sei durch die
Christen dort mehr Entsetzliches geschehen, als durch die „ungläubigen
Hunde" in sechs Iahrhunderten.

Man sollte denken, daß diesen Nachrichten gegenüber in der öffent-
lichen Meinung Europas nur zweierlei Verhalten möglich sei. Ent-
weder: man glaubt sie innerlich nicht. Dann drängt man vorläufig
die Entrüstung über die Verleumder zurück, bis sicher arbeitende
Untersuchungskommissionen die Lügen als Lügen erwiesen haben.
Oder: man glaubt sie. Dann müßte ein Aufruhr der Empörung
über die christlichen Barbaren durch Europa gehen, wie seit Iahr-
hunderten keiner.

Aber unsre Zeitungen beschränken sich auf Notizen in kleinem Satz,
und unsre Regierungen teilen auf Anfragen mit, daß sie die zu-
ständigen Regierungen auf etwaige Ausschreitungen aufmerksam ge-
macht hätten. Das ist gewiß: wenn die Türken erklärten, sie müßten
ihre Papiere wider Versprechen mit einem Prozent weniger verzinsen,
so würde das viel mehr Zeitungs- und Parlamentslärm ergeben, als
die von soundso viel glaubwürdigen Zeugen erhobenen Beschuldi-
gungen des Marterns, Schändens und Hinmordens von Zehntausen-
den Wehrloser durch sogenannte Christen.

Darum heben wir den Fall durch Erwähnung an dieser Stelle
heraus: weil er mit schlagender Deutlichkeit zeigt, wofür Europa „sich
interessiert". Wenn sich's politisch für diese oder jene Absichten ver-
werten läßt, dann aüch für „Greuel" — man denke, wie bei den
armenischen der „eant" stieg. Sonst für Werte, die Geld machen.
Anmittelbar durch Handelsgeschäfte oder mittelbar durch Zuwachs
an Macht.

Torheit, sich darüber zu empören, Schwachmut, darüber zu jam-
mern, daß die Menschheit ist, wie sie geworden ist, also doch wohl
werden mußte. Wenn es vor der neuzeitlichen Springwelle kapita-
listischen Geistes Iahrhunderte gegeben hat, in denen auch sittliche
Kräfte lenkende Mächte waren, so sind diese Kräfte auch heute noch
da, und da die kapitalistischen Interessen doch nur solche der Minder-
heiten sind, so ist ihre Herrschaft nicht naturgewollt. Es kann wieder
anders werden, auch in Europa. Aber niemals, wenn wir die Augen
schließen vor Tatsachen, um die harte Wslt in Phantasiebildern
„schöner", nein: süßlicher gefärbt zu sehn. Ob die Wahrheit er-

ü Februarheft
 
Annotationen