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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1913)
DOI Artikel:
Spitteler, Carl: Über die tiefere Bedeutung von Vers und Reim
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0025

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aus dem Milreu ihres Standes kommen, energisch zu widerstehen,
also: auch da nicht mehr, wo wir den Gedanken an eine „Klassen-
justiz" abweisen, oder wo er gar nicht in Frage kommt. Wie gebessert
werden kann, davon wird wohl auch an dieser Stelle noch weiter
gesprochen werden. Das wichtigste dürfte dieses schwierigste sein: über-
all bewußt zu halten oder wieder bewußt zu machen, daß die erreichbar
größte Rechtssicherheit, daß die unbedingte innere Sachlichkeit
der Entscheidungen als wichtigstes Fundament der Gesellschaft gewahrt
werden muß, auch gegen formale Bemerken hier und gegen noch so
starke Interessen und Wünsche von Einzelnen wie von ganzen Gesell--
schaftsschichten. Ie allgemeiner zunächst einmal diese Äberzeugung
werden wird, je sicherer wird man Wege finden, wo man Wege will.

A.

Äber die tiefere Bedeutung'vorr Vers und Neim

^^m Iahre W3 über die Bedeutung von Vers und Reim zu
^Hsprechen, scheint unbescheiden, unnötig, das ist ja schon hun-
dertmal besprochen worden, darüber wissen wir endlich, Gott
sei Dank, alles Wissenswerte. Wirklich? Es ist noch kaum zwanzig
Iahre her, daß Professoren der Literaturgeschichte Vers und Reim
für absterbende Formen der poetischen Sprache erklärten. Wir alle
erinnern uns, daß unlängst eine ganze literarische Partei, und zwar
die maßgebende, einen förmlichen Krieg gegen die Verssprache sührte,
ja wir können heute noch alle Tage die Meinung öffentlich aussprechen
hören, Vers und Reim wären nur äußerliche Nebenumstände, so
eine Art Verzierungen, im Grunde bedeute es keinen wesentlichen
Änterschied, ob man Poesie in schmucklosem prosaischen Gewande,
oder in Versen, und wenn in Versen, ob in reimlosen oder gereimten
Vsrsen darstelle. And was der und jener gelegentlich ausspricht,
also die Äberzeugung, Vers und Reim wären bloß ein äußerlicher,
mithin entbehrlicher Sprachschmuck, das ist gegenwärtig die allge-
meine Annahme,- nicht jeder denkt so, weil eben nicht jeder denkt,
aber so ziemlich alle Welt setzt voraus, es wäre so.

Wenn ich es daher unternehme, überzeugen zu wollen, daß
Vers und Reim nicht bloß Lußerliche Schmuckgegenstände, nicht bloß
Sprachangelegenheiten sind, sondern das Mark und die Seele der
Poesie angehen, daß es einen tiefinnersten Unterschied ausmacht,
ob ich das nämliche in Prosa oder in Vers, in gereimtem oder un-
gereimten Vers erzähle, so begehe ich hiermit alles andere als etwas
Selbstverständliches; ich besorge eher, etwas Verwunderliches vor-
zubringen.

Mein Raum ist knapp, ich springe deshalb gleich mitten in die
Hauptsache hinein. Es handelt sich um folgendes:

Der Rhythmus stimmt die Seele des Hörers anders, als
sie im gewöhnlichen Alltagsleben gestimmt ist, denn in der spricht
man Prosa; der Rhythmus weckt Bedürfnisse, die unter den gewöhn-
lichen Nmständen schlummern, rückt Dinge, die im Hintergrund der
Seele ruhten, an den ersten Platz, und beseitigt dafür andere, die
im täglichen Leben das große Wort führen. Die Seele des Hörers
erwartet und begehrt einen anderen Inhalt von der rhythmischen.

sv

Kunstwart XXVI, 7
 
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