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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

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Heft 12 (2. Märzheft 1913)
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Die Kirchen auf!: Ostergedanken
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0450

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Iahrg. 26 Zweites Märzhest 1913 Heft12

Die Kirchen auf!

Ostergedanken

n. meinem Hause vorbei fließt der Strom, und nun ist Eisgang
l darauf. Große Schollen, silbrige, abgestoßene schon und abgerun-
^^dete, von weißen Glasstück-Kränzen umränderte Kristall-Inselge-
fährte wandeln in würdiger Bewegung mit fürnehmem Knistergetuschel
langsam und feierlich ab ins Meer. Sonst ist es nur aus den tzöhen,
am tzorizonte noch weiß, und auch da ist, sozusagen, kein Verlaß mehr
darauf, so graut es und bräunelt es schon. tzier drunten aber im
Tal spinnt es durch die Bäume in bronzenem, goldigem, grünlichem
Gepunktel und Gefleck, und auf Len Wiesen liegt die Saat als breites
Grün. Vogelstimmen dazu — die Amseln, die Stare. Uud horch:
da jubelt ja auch wieder der süße Kindergesang der Lerchel Oster-
zeit — es ist als hörte dein leibliches Ohr den tzimmel und als sähe
dein leibliches Auge ihn niederschweben vom Blau. Und drunten:
als sähe es in all den Knospen das Ewige selbst sich emporheben
aus Tiefen, die zu begraben schienen und die nur bargen.

So schreiten wir mit Hochgefühlen durch diese Zeit, wärmer und
freudiger im tzerzen, mutiger im Erwarten, williger zu tüchtigem
Schaffen. Aber es ist nicht jede Zeit Ostern, Pfingsten, Weihnacht,
wo das religiöse Fühlen zu allen als gemeinsamer Festgast kommt.
Wir brauchten's immer, auch im Alltage, auch bei der Arbeit, und die
Starken von uns Haben's auch immer, die Schwachen aber nicht.
Warum sorgen wir nicht besser dafür, daß es auch zu den Schwachen
komme, zu denen doch jeder zu Zeiten gehört, und nicht nur durchs
Bibelwort, sondern auf jedem Wege und zu jeder Gelegenheit?
Warum versperren wir uns allen die Möglichkeit, sich in den ehrwür-
digen RäumLn der Kirchen zu stillem Ausruhen des Geistes abzu-
sondern vom Marktlärm und vom Tagesgeschrei? Und da doch
nur in den großen Städten würdigere Räume wenigstens hie und
da zur Verfügung stehn, warum verweisen wir unsere Feste, auch
die hohen und ernsten, sobald sie nicht kirchlichen Wesens sind, in
so unzähligen Fällen aus den Gotteshäusern in die Tanzsäle und
Kneipen?

„Die Kirchen auf!", wir rufen das heute nicht zum erstenmal,
und wir rufen's in die protestantische Welt auch nicht allein. Als
wir gelegentlich der Goethefeiern im Iahre IZOO Geistliche um ihre
Meinung fragten, schloß sich die weit überwiegende Mehrzahl dem
Wunsche an, und nicht in Gleichgültigkeit, sondern in Wärme. Die
Reformation hat die Kirchen geschlossen. Sie mochte das in Besorg-
nis tun, mit dem alten Brauche katholisches Wesen zu fördern;
die RLume schienen vielleicht der frischen Erinnerungen zu voll,
als daß man die Gemeinde ohne das leitende Wort der Prediger
gesichert genug vor den Geistern des Ehedem glaubte. Kirchen waren
ja nicht mehr nach katholischer Auffassung Gotteshäuser, sie sollten

2. Märzheft W3 369
 
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