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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

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Heft 7 (1. Januarheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0061

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Vom tzeute fürs Morgen

Neujahr

<^ie Zeit kennt keinen Halt. Sie
^läuft nnd läuft. Ieder Tag
ist ihr gleichgültig. Sie schickt ihn
in die Welt, wie der Hirnmel die
Milliarden Schneeflocken. Sie

weiß nichts von Festtag und Alltag,
von Iahren, Monaten und Tagen.
Diese Ordnung stammt vom Men-
schen. Er wollte nicht ganz ver-
sinken im Strudel der jagenden
Zeiten. Drum setzte er Mark-
steine. Dadurch wird an sich nichts
anders. Aber der Mensch zeigt
doch seine gewisse Herrschaft. Er
will -a Atem schöpfen, wo er
einen Einschnitt machte. So wird
der Kalender zum Zeichen des
Menschenwillens in der Flut der
Zeit.

Wir Leute von heute haben ein
ausgeprägtes Zeitbewußtsein. Man
muß einmal in das Hochgebirge
gehen, um zu begreifen, daß Men-
schen auch leben können ohne Se-
kundenzeiger. „Zeit lassen" rufen
uns dort die Berge entgegen. Oder
man sehe sich so einen behaglicheu
Südländer-Iungen an, der seine
Ieit verträumt. „Ist's heute nicht,
so ist es morgen." Den Wenschen
der Maschinen kann sie nervös
machen, solche unheimliche Gleich-
gültigkeit gegen die Zeit. Aber
noch viele, viele Völker leben heut-
zutage nicht anders. Die Kultur
fängt vielleicht erst mit dem Messen
der Zeit an. Iedenfalls ist es das
Zeichen des heutigen Kulturmen-
schen, daß er die Zeit zerteilen ge-
lernt hat. Wie stolz war ich noch
als Iunge auf meine Uhr. Da
konnte man richtig die Minuten
ablesen, von denen man in der
Schule gelernt hatte. Früher rich-
tete man sich nach der großen
Sonnenuhr oder nach dem Läu»

ten der Glocken zu Morgen, Zehn,
Mittag, - Vesper und Abend. Ietzt
merkte ich erst recht, wie lang
eine Minute sich dehnt. Aber
was bedeutet dieses Zeitmaß gegen
die heutigen Messungen! Welch
unfaßbar winzigen Teil einer Se-
kunde kann man noch photogra-
phisch beherrschen! Von anderem
ganz zu schweigen, was in der
Welt der Wissenschaft gang und
gäbe ist. Ia, wir sind weit ge-
kommen in der Herrschaft über die
Zeit. Wir haben sie zerfasert und
zwingen sie, daß sie uns dient in
ihren Millionsten von Teilchen.

Aber seltsam! Unsrer Empfin-
dung nach jagt die Zeit heute
mehr als je. Sie scheint sich
rächen zu wollen für den Eingriff
in ihr Reich. Sie dehnt sich nicht
mehr behaglich neben uns wie die
schnurrende Katze sich breit in den
Sonnenschein vors Haus legt.
Hastig schleppt sie uns mit und
reißt uns fort mit Riesenschritten,
so daß wir kanm zn Atem kom-
men können. Wir Menschen heute
haben unendlich mehr Zeitteile ge-
wonnen, als Vater und Argroß-
mutter; gleichzeitig haben wir viele
Zeit verloren, in der jene langsam
aber stark aufwuchsen wie ein
schlanker Tannenbaum. And sie
nützten ihre Zeit auch, die Alten,
und kauften sie aus, und brachten
etwas zustande. Es muß also nicht
nnr am Lempo hängen, damit
man gewinne und vorwärtskomme.
Aber sie verstanden eine Kunst:
sich Zeit zu nehmen, Zeit für
sich selbst. Das heißt noch lange
nicht faul sein. Das heißt nur
soviel, daß man für sich selbst mehr
Zeit nötig hat, als für dies und
jenes Geschäft. Weil aber jede
Arbeit so wird, wie der Arbeitende

Kunstwart XXVI, 7
 
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