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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

DOI issue:
Heft 8 (2. Januarheft 1913)
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Avenarius, Ferdinand: Des Kaisers neue Kleider
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0110

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Mißwirtschaft unser deutsches Wesen jahraus jahrein den oder jenen
Künstler hsrvortreten läßt, der einer ist: die deutsche Produktivität ist
nicht totzukriegen. Nur, wahrhaftig, man macht's ihr sauer! Wer
schiert sich denn um unsre Eigenkräfte? „Manet ist der Größte, o betet
ihn an", riefen die Leithammel, der Herde ward's schwer, aber hopp,
sie kam über den Graben. Cszanne! Gauguin! Van Gogh! Del
Greco! Matisse! immer wieder sprangen die Bildungsbeflissenen
hinter den von Lntdeckerwehen Geängsteten her. Und das kommt dazu:
selten gab's und gibt's neue Verzückungen ohne gleichzeitige Tob-
suchtanfälle gegen anderes. Hoch Van Gogh, weg mit Böcklin und
Menzel, hoch del Greco, weg mit Velasquez. Es ist genau wie beim
sonstigen Marktgeschrei: preis ich „meine" Waren, mach ich die der
„Konkurrenz" schlecht. Oder auch, man treibt's gegen den Gegner
mit der Äberlegenheits-, gegen den Leser mit der Vertraulichkeitspose:
„wir beide verstehn uns", nach dem Kleiderjuden-Rezept: „wie kann
man einem Herrn wie Sie so was verkaufen!" Folge bei den Herden:

Initrale und zugehörlger einleitender Satz
des Kapttels ,Aber die Formsrage" von
Kandinsky aus dem „Blauen Reiter^

ur bestimmten Zeit
werden dieNotwen-
digkeiten reif. D. h.
der schaffende Geist
(welchen man als
den abstrakten Geist
bezeichnen kann> fin-
det einen Zugang
zur Seele, später zu
den Seelen und verursacht eiue Sehnsucht, einen innerlichenDrang.

ein Schnellgelaus, daß sie ja jeden Tag ganz vorn hinter die Leithammel
kommen. Folge bei den Vernünftigen: ein Mißtrauen gegen jede Kritik,
das die Leithammel einfach als Schöpse nimmt. Folge bei der Kunst-
pflege des ganzen Volkes: immer wieder ein Weggerissenwerden, wo
man sonst vielleicht zum Vertiefen käme, ein Zerstreuen, wo man
halten und sammeln sollte. Statt einer Verinnerlichung eine Ver-
äußerlichung. Für das, was Ausdruck unsres innersten Lebens sein
könnte, für die Kunst: Vermodung. In Gedanken, Gefühlen,
Gesichten: Moden, wie bei Krawatten und Turnüren.

Ich begrüße die vom „blauen Reiter" Kandinskys mit einem Gruß,
der von Herzen kommt, denn ich glaube, sie können uns zu Erlösern
werden. Weiter geht's nicht, aber bis dahin mußt es auch bei der
Aufschwatzerei durch die ihrer Ansicht nach moderne Kunstkritik kom-
men. Soweit, mein ich, daß man selbst dieses bieten konnte in dem
Vertrauen: eine so vorerzogene Nachläuferschaft nimmt auch diesen
Graben noch im Sprung. Wenn's nicht die eine Horde tut, hopset
die andre. Schon erschallen Stimmen: der Geist kommt in der
Kunst wieder obenauf, der Gehalt steigt im Wert! Wo, guter
Gott — bei Kandinsky?

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Kunstwart XXVI, 8
 
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