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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

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Heft 12 (2. Märzheft 1913)
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Behl, Carl F. W.: Hebbel: von zwei Standpunkten gesehn
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0459

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gesetzen erlanbt. Oder wre es Hebbel selbst in seiner klassischen
Besprechung des Prinzen von Homburg ausdrückt: „Es leuchtet wohl
jedermann ein, daß uns in diesem Drama auf eine Weise, wie es
sonit nirgends geschieht, der Werdeprozeß eines bedeutenden Men-
schen in voller Unmittelbarkeit vorgeführt wird: daß wir in das
charakteristische Durcheinander von rohen Kräften und wilden Trieben
hineinschauen, aus denen ein solcher meistens hervorgeht, und daß
wir ihn von seiner untersten Stufe an bis zu seinem Höhepunkte be-
gleiten, auf dem der ungebändigt schweifende und in seiner Regel-
losigkeit der Gefahr der Selbstzerstörung ausgesetzte Komet sich in
einen klaren, auf sich selbst beruhenden Fixstern verwandelte."

Denn nur darum handelt es sich für Hebbel, und nicht etwa um
die kümmerliche Naseweisheit, als Moralist von außen her dem Men-
schen Sittengesetze vorschreiben zu wollen, der das Zeug zu einer eignen
Persönlichkeit in sich hat. Wenn trotzdem die Klagen über die Enge
seiner ethischen Ansichten nicht verstummen, so liegt das einmal daran:
sicherlich ist nicht wenigen Leuten jedes selbständige Wollen, jeder
kategorische Imperativ an sich verhaßt, da er sie Hindert, sich unge-
stört einem lässigen oder geschäftigen Triebleben je nach Temperament
hinzugeben. Dann aber wird das besondre Wollen und Sollen, das
seine Dichtung beherrscht, von einem unbequemen strengen Verant-
wortungsgefühl beseelt: es kennt kein Recht ohne Pflicht und schlägt
in die Zerfahrenheit unserer Tage hinein wie eine gepanzerte Faust.
Hebbels Männergestalten sind dessen Zeugen vom Meister Anton
an über Tobaldi und Herzog Ernst bis zum Hagen. Gerade darum
aber wird er ein dichterischer Wegweiser zum höchsten Ziele für den,
der dem Leben mehr abgewinnen will als Landstreicherwillkür: die
Freiheit, die aus der Selbstbeherrschung hervorgeht.

^^.itten zwischen all die Begeisterungsfeste, durch die das deutsche
^/(.Volk die hundertste Wiederkehr seiner Befreiungstaten, den Be-
ginn jenes großen und stürmevollen Zeitalters seiner politischen Re-
naissance in diesen erinnerungsreichen Tagen feiert, fallen zwei Da-
ten, deren Gedächtnis heilig ist in der Entwicklungsgeschichte der
deutschen Kunst. Am 22. Mai wird man den hundertsten Geburtstag
Richard Wagners begehen, dem das Schicksal die Gnade schenkte,
vollenden zu dürfen und ein Erfüller seiner selbst zu sein — jene
unvergleichliche Gnade, die Goethe zuteil ward und Henrik Ibsen und
die Friedrich Hebbel, dem zutiefst tragischen Menschen und Dichter,
dessen Geburtstag am s8. März zum hundertsten Male sich jährt,
versagt blieb.

Drei Namen bezeichnen die große Entwicklung, die im letzten Iahr-
hundert unsre deutsche dramatische Dichtung genommen hat: tzeinrich
von Kleist, Friedrich Hebbel und Gerhart Hauptmann. Seltsam un-
gleich sind ihnen die Lebenslose gefallen.

Heinrich von Kleist war von den dreien der unglücklichste; sein Dasein
war ein rastlos unaufhaltbares Vorwärtsstürmen in dionysischer Schöp-
ferwollust. Er ging jäh dahin, verzweifelnd, unerkannt, ein Opfer
verhängnisvoller Verkettungen persönlicher und zeitlicher Verhält-

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