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Kunstwart und Kulturwart — 26,2.1913

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Heft 12 (2. Märzheft 1913)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14285#0496

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bestimmte; der die weiten Grenzen der Zeitlosigkeit ansmaß, um nnn die
Zeit zn schicken zn Freud und Leid der Menschen. Die Gedanken werden
stille. Denn sie verlieren sich. Ich nenne dir die alte Gottes-Weisheit
in einem einzigen Wort. Ls heißt: die Zeit.

Traub, Ans suchender Seele

g^ie Winüstille hat ihre eigentümliche Gefahr. Da atmet der Mensch
-2^ein, was er selber ausgeatmet hat, und je länger er dies tnt, desto
sicherer wird er vergiftet. Schauet doch, wie in diesen lanen, wind-
stillen Lagen des Frnhherbstes sich alles, was grün und frisch war,
zum Sterben wendet. Die letzte Rose entblättert sich noch als Knospe
und durch ihren frühsten Duft weht ein Hauch der Verwesung. Und
so geht es dem Menschen auch in der Windstille. Frisch und kraftvoll
ist er gewesen, als der letzte Sturm ihn gerüttelt hat, aber jetzt wird
er bald trockene Zweige znm Himmel strecken. In dieser lauen, müden
Windstille gehen seine Einbildungskraft, seine Fähigkeit, sich anzu-
schließen und aufzuschließen, seine Lust, die Menschen liebzuhaben,
seine Kraft und seine Kunst zu Ende. Er wird alt und trocken und kann
es nicht hindern, obgleich er es fühlt. Er spinnt sich ein und friert,
und so wartet er auf den letzten Windstoß, der ihn fällt. Und wie
es dem einzelnen ergeht, so den Gemeinschasten, den kleinen und den
großen und den größesten. Kein freies Hoffen will mehr gedeihen, alle
Früchte erscheinen wie verspätet. Eine allgemeine Schwermut und Ver-
drießlichkeit steigt auf wie Rebel aus den Wiesen und lagert sich schwer
und kalt auf die Gemüter. Wo es noch lebendig zugeht, da ist die
Selbstsucht der Kommandeur. Die sogenannten Ideale aber sind Schatten,
sind Namen. Sie leben in Festreden, aber nicht in den Herzen und
nicht in den Handlungen. O Iugendzeit, du goldene Zeit, ach, wie liegst
du so weit, so weit! Wir dürfen Gott den Herrn nicht bitten, daß er die
Stürme loslasse, denn sie würden vieles in Lrümmern zurücklassen, was
heute steht; wohl aber müssen wir zn ihm flehen: tzilf uns, daß wir
nicht innerlich veröden in dieser Windstille. Eine Sehnsucht nach Gott
steigt da in den Gemütern auf. Fm Sturmgebrause schreit man zu
Gott, aber in der Windstille seufzt man zu ihm. Wenn Gott schweigt,
dann wird die Stille zur Todesstille. O Gott, schweige doch nicht also
und sei doch nicht so stille! Schmitthenner

^Ls ist ein seltsamer Zustand, wenn man Vögel singen, Wasser rauschen,
^Menschen laufen, Schiffe fahren sieht und nichts dabei selber mitzutun
hat. Es ist, wie wenn großmächtige Blöcke auf dem Bauplatz ange-
fahren werden, aber man weiß noch nicht, welchen Platz sie im Neubau
einnehmen. Das Herz muß sich erst ausweiten, um alles hereinzulassen,
und es muß gleichzeitig tief Atem holen, damit es die neue Welt in
fich einsaugt. Man verliert sich und wird selbst nur zum Teil der
Umgebung. Den Herrn zu spielen hat man aufgehört und ist abhängig
von dem Ganzen, das uns umflutet. Es dringt von allen Seiten auf
uns ein. Wir gehen in keiner Richtung. Mir empfinden nur, daß
wir rundum in Anspruch genommen werden. Und das ist fröhliche Zeit.
Solches Gehenlassen der Seele macht den Menschen gesund. Alle auf-
gerichteten Zäune fallen. Man lebt wieder auf, weil man am Ouell


Kunstwart XXVI, s2 ^
 
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