16
Kapitel 1
staatliche Betrachtungsweise, so wurde später nach der zeitgenössischen „Verfas-
sung" gefragt, die mit unterschiedlichen Methoden rekonstruiert werden sollteA
Zunächst wurde die Frage nach dem germanischen und frühmittelalterlichen
Adel als ein Teil der Ständegeschichte betrachtet; die Autoren hatten die Ständege-
sellschaft des alten Reichs zum Teil selbst noch vor Augen gehabt. Als u.a. auch
politisch relevantes Thema prägte diese Perspektive die Forschung im Vormärz.
So beschäftigte man sich etwa in der Nationalversammlung 1848 mit dem Pro-
blem, wie denn der Adel überhaupt entstanden seiA Als Klassiker gilt Justus Mö-
ser, der in seiner 1768 bis 1780 erschienenen Osnabrückischen Geschichte ein Bild
entwarf, das in seinen Grundzügen lange gültig bliebA Mösers Ansatz war durch-
aus noch der Geschichtsschreibung der Aufklärung verpflichtet, dennoch argu-
mentierte er nicht naturrechtlich, sondern historisch. Zentral war für ihn die Frage,
wie das freie Bauerntum der vorkarolingischen Zeit, das er ohne Zweifel als politi-
sches Ideal betrachtete, seine soziale und rechtliche Stellung verlorA Noch zur Zeit
Caesars sei der westfälische Hofbauer frei gewesen; in einem Staat der freien
Landeigentümer habe es ein herrschaftsloses Nebeneinander gegeben. Karl der
Große habe das Ende der sächsischen Freiheit herbeigeführt, indem er neue geist-
liche und weltliche Verwaltungsbezirke und damit einen neuen Staat begründet
habe. Zur Verteidigung seien zunächst alle verpflichtet gewesen, dann habe man
einzelne „Reiter" mit besonderen Aufgaben beauftragt. Aus diesen sei letztlich ein
Adel mit erblichen „Offiziersstellen" geworden, der vor allem unter dem schwa-
chen Herrscher Ludwig dem Frommen eine herrschaftlich-politische Stellung
erreicht habe. Die „Gemeinen" seien allmählich zu „Leuten" des Adels „herabge-
drückt" worden.
Eine in wichtigen Teilen andere Sichtweise bot Karl Friedrich Eichhorn ab 1808
in seiner Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Auch Eichhorn sah die „bürger-
liche Verfassung der Germanen" auf die „Freiheit einer herrschenden Volksge-
meinde" gegründet. Anders als Möser interpretierte er die Angaben bei Tacitus
allerdings als Hinweis auf ein ständisch gegliedertes Gemeinwesen. Ein Adel als
Geburtsstand mit erblichen politischen Vorrechten habe bereits existiert. Als Vor-
rechte nannte Eichhorn die Bekleidung der öffentlichen Ämter, die Vorberatung in
der Volksversammlung, den Besitz eines Dienstgefolges und die Herrschaft über
Unfreie. Diese Kriterien genügten ihm, um von einem Rechtsstand zu sprechen.
Der Ursprung dieser Vorrechte sei unklar, aber der Stand müsse „aus einer Ein-
12 Vgl. dazu ausführlich BÖCKENFÖRDE, Forschung.
13 Vgl. dazu die spöttischen Bemerkungen von KÖPKE, Blumenlese; ferner BELOW, Staat, S. 113f. Anm.
2.
14 Vgl. MÖSER, Osnabrückische Geschichte, bes. Bd. 12,1, S. 213ff., 243, 261-267; Bd. 12,2, S. 94ff., 205f„
235f„ 246-249, 346-386; Bd. 13, S. 187-191.
15 Vgl. dazu OBERKROME, Volksgeschichte, S. 42, der die „singuläre Stellung" Mösers als Theoretiker
und Bearbeiter der Geschichte des Volkes im regionalen Bezugsrahmen hervorhob; ferner M. MAU-
RER, Justus Möser.
Kapitel 1
staatliche Betrachtungsweise, so wurde später nach der zeitgenössischen „Verfas-
sung" gefragt, die mit unterschiedlichen Methoden rekonstruiert werden sollteA
Zunächst wurde die Frage nach dem germanischen und frühmittelalterlichen
Adel als ein Teil der Ständegeschichte betrachtet; die Autoren hatten die Ständege-
sellschaft des alten Reichs zum Teil selbst noch vor Augen gehabt. Als u.a. auch
politisch relevantes Thema prägte diese Perspektive die Forschung im Vormärz.
So beschäftigte man sich etwa in der Nationalversammlung 1848 mit dem Pro-
blem, wie denn der Adel überhaupt entstanden seiA Als Klassiker gilt Justus Mö-
ser, der in seiner 1768 bis 1780 erschienenen Osnabrückischen Geschichte ein Bild
entwarf, das in seinen Grundzügen lange gültig bliebA Mösers Ansatz war durch-
aus noch der Geschichtsschreibung der Aufklärung verpflichtet, dennoch argu-
mentierte er nicht naturrechtlich, sondern historisch. Zentral war für ihn die Frage,
wie das freie Bauerntum der vorkarolingischen Zeit, das er ohne Zweifel als politi-
sches Ideal betrachtete, seine soziale und rechtliche Stellung verlorA Noch zur Zeit
Caesars sei der westfälische Hofbauer frei gewesen; in einem Staat der freien
Landeigentümer habe es ein herrschaftsloses Nebeneinander gegeben. Karl der
Große habe das Ende der sächsischen Freiheit herbeigeführt, indem er neue geist-
liche und weltliche Verwaltungsbezirke und damit einen neuen Staat begründet
habe. Zur Verteidigung seien zunächst alle verpflichtet gewesen, dann habe man
einzelne „Reiter" mit besonderen Aufgaben beauftragt. Aus diesen sei letztlich ein
Adel mit erblichen „Offiziersstellen" geworden, der vor allem unter dem schwa-
chen Herrscher Ludwig dem Frommen eine herrschaftlich-politische Stellung
erreicht habe. Die „Gemeinen" seien allmählich zu „Leuten" des Adels „herabge-
drückt" worden.
Eine in wichtigen Teilen andere Sichtweise bot Karl Friedrich Eichhorn ab 1808
in seiner Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Auch Eichhorn sah die „bürger-
liche Verfassung der Germanen" auf die „Freiheit einer herrschenden Volksge-
meinde" gegründet. Anders als Möser interpretierte er die Angaben bei Tacitus
allerdings als Hinweis auf ein ständisch gegliedertes Gemeinwesen. Ein Adel als
Geburtsstand mit erblichen politischen Vorrechten habe bereits existiert. Als Vor-
rechte nannte Eichhorn die Bekleidung der öffentlichen Ämter, die Vorberatung in
der Volksversammlung, den Besitz eines Dienstgefolges und die Herrschaft über
Unfreie. Diese Kriterien genügten ihm, um von einem Rechtsstand zu sprechen.
Der Ursprung dieser Vorrechte sei unklar, aber der Stand müsse „aus einer Ein-
12 Vgl. dazu ausführlich BÖCKENFÖRDE, Forschung.
13 Vgl. dazu die spöttischen Bemerkungen von KÖPKE, Blumenlese; ferner BELOW, Staat, S. 113f. Anm.
2.
14 Vgl. MÖSER, Osnabrückische Geschichte, bes. Bd. 12,1, S. 213ff., 243, 261-267; Bd. 12,2, S. 94ff., 205f„
235f„ 246-249, 346-386; Bd. 13, S. 187-191.
15 Vgl. dazu OBERKROME, Volksgeschichte, S. 42, der die „singuläre Stellung" Mösers als Theoretiker
und Bearbeiter der Geschichte des Volkes im regionalen Bezugsrahmen hervorhob; ferner M. MAU-
RER, Justus Möser.