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Programm, sondern um die Aufzeichnung eines „mündlich geübten Überzeu-
gungsrechts'^.
Die meisten Vertreter der Adelsherrschaftstheorie aber glaubten, daß die Lex
einen Soll-Zustand zeige: Der Wille des Königs zur Nivellierung der sozialen und
politischen Unterschiede sei erkennbar, doch sage dies nichts über die tatsächli-
chen Verhältnisse aus. Diese Auffassung vertraten in ihren Grundzügen etwa
Theodor Mayer, Heinrich Mitteis oder Dietrich Claude^; auch Erich Zöllner hat
sie, seine ursprüngliche Meinung im Zuge der sich durchsetzenden Adelsherr-
schaftstheorie modifizierend, nicht grundsätzlich ausgeschlossen^. Der König
hätte also nur jenen, die im Königsdienst standen, ein erhöhtes Wergeid zuerken-
nen wollen. Walter Schlesinger hat bei seiner Untersuchung der Verhältnisse in
Thüringen vermutet, daß entweder von oben neues Recht gesetzt worden sei oder
der Änderung im lebenden Recht ein Riegel vorgeschoben werden sollteW An die
Stelle der Gefolgschaften der Großen sollte nach königlichem Willen der „Ein-
heitsstand der Freien" treten^. Die Vorstellung, daß ein „alter" Adel eventuell im
Antrustionat fortlebte, war damit ohne Probleme zu vereinbaren. Damit war man
wieder bei der Meinung Eichhorns angelangt. Rudolf Koss, ein unbeachteter Vor-
läufer der Adelsherrschaftstheorie, hatte diese These schon am Beginn des 20.
Jahrhunderts ebenso vertreten^, und Eberhard Otto, Heinrich Mitteis, Karl Bosl
und Walter Schlesinger knüpften zum Teil sogar explizit an Eichhorn aiW Das
von Karl dem Großen überlieferte Diktum, daß es im Reich nur Freie und Unfreie
gebe, galt in dieser Sicht als Ausdruck eines Programms zur Neuordnung der
Gesellschaft, nicht als - letztlich erfolgloses - Beharren auf überholten Zustän-
den^. Bedeutung gewinnt diese Einschätzung vor dem Hintergrund der Feststel-
lung, daß die Unterscheidung nach dem Rechtsstand, die für die ältere Rechtsge-
schichte von zentraler Bedeutung war, nicht das alleinige Kriterium zur Struktu-
rierung einer Gesellschaft isWs. Die Vorstellung von einer „staatsautoritären Ge-
327 WEITZEL, Strafe, S. 141.
328 Vgl. Th. MAYER, Königtum, S. 157-162; DERS., Die Königsfreien, S. 35; MITTEIS, Staat, S. 49f.; CLAUDE,
Untersuchungen, S. 72; DERS., Fragen, S. 275.
329 Vgl. E. ZÖLLNER, in: IRSIGLER, Hauptprobleme, S. 50. Zunächst war Zöllner der Meinung gewesen,
daß es sich beim fränkischen Adel im wesentlichen um eine Neubildung gehandelt habe (vgl. Stel-
lung, S. 65).
330 Vgl. SCHLESINGER, Entstehung, S. 85-98.
331 Vgl. SCHLESINGER, Entstehung, S. 124—129; DERS., Herrschaft, S. 35. Vgl. auch BOSL, Die alte deutsche
Freiheit, S. 208.
332 Vgl. Koss, Lehre, S. 50-53.
333 Vgl. OTTO, Adel, S. 105, 110ff.; MITTEIS, Staat, S. llf. 49; DERS., Formen, S. 638; 644; BOSL, Reichsari-
stokratie, S. 142; SCHLESINGER, Herrschaft, S. 37.
334 Vgl. dazu auch R. SCHNEIDER, Frankenreich, S. 78f.
335 Schon Gerhard SEELIGER wandte gegen die seinerzeit herrschende Lehre ein: Die „soziale(n) Er-
scheinungen bieten ein wechselvolles Bild, je nach dem Gesichtspunkt, unter dem man sie betrach-
tet. Mit der Kenntnis von Ständen im Rechtssinn ist das historische Verständnis der sozialen Bin-
dungen nicht erschöpft". (Bindungen, S. 15). Vgl. heute R. SCHNEIDER, Frankenreich, S. 78f.