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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 31.1932

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Schmidt, Georg: Gebrauchsgerät
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https://doi.org/10.11588/diglit.49241#0554

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Flugbild von Berlin mit vierseitig umbauten, lichtlosen
Hinterhöfen. Wie konnte man dazu kommen, die Makartpracht
schön zu finden? Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat
den Blick in die Vergangenheit geöffnet. Während man früher
die Menschen früherer Zeiten in den Kostümen seiner
eigenen Zeit sich vorstellte, lernte man jetzt die Zeiten
objektiver sehen, im Originalkostüm gleichsam, und das
Originalkostüm jeder Zeit nannte man ihren „Stil“. Gegen-
über der naiven Projektion der Vergangenheit auf die flache,
kleine Scheibe der Gegenwart gewann man den wahrhaft
grandiosen Blick in die wirklichen Tiefen des historischen
Raums. Dieser Blick aber berauschte einen so sehr, daß man
meinte, nun stünden einem alle Zeiten, alle Stile offen. Man
formte sie nicht um, beileibe nicht: mit kunsthistorischer Exakt-
heit kopierte man sie.
Dann aber kam der unvermeidliche Katzenjammer! Von
den historischen Wissenschaften hatte man gelernt, jede Zeit
nach dem Maß, in dem sie einen „Stil“ besaß oder nicht,
hoch oder niedrig zu bewerten. Jetzt gingen einige empfind-
lichere Männer daran und maßen auch ihre eigene Zeit mit
diesem Maßstab — und siehe da: das Ergebnis dieser Messung
war vernichtend. Eine Zeit ohne Stil — das empfanden diese
Männer ungefähr so wie den Morgensternschen Lattenzaun,
dem jener Architekt den Zwischenraum herausgenommen hatte:
als „Anblick gräßlich und gemein“. Und das heißeste Bemühen
dieser Männer war, ihrer Gegenwart einen „Stil“ zu schenken,
damit auch sie einst vor dem Urteil der Weltgeschichte als
vollwertige „Zeit“ gelten dürfe. Das Produkt dieser Be-
mühungen war: der Jugendstil.


Pariser Untergrundbahnhof im Jugendstil. Längst empfinden
wir den Jugendstil nur als ein neues Narrenhausgewand.
Neben diversem Positiven verdanken wir dem Irrtum seiner
Schöpfer eine sehr wichtige Erkenntnis — daß es nämlich
nicht mehr möglich sei, von der Seite her, auf der sämtliche
Stile der Vergangenheit beruhen, zu einem Stil zu kommen:
von der Seite des Dekorativen her. Derber gesagt: von der
Seite des Ornaments her.
Der erste Mann, der das erkannt und nach dieser Erkenntnis
gehandelt hat, war Adolf Loos.


Adolf Loos, Wohnhalle. Solche Räume und solche Möbel
hat Loos schon 1903 gemacht. Man kann sich denken, als was
er damals gegolten hat: als reif fürs Narrenhaus! Heute ist
Adolf Loos’ wahrhaft voltairehafter Kampf wider das Orna-
ment längst zu seinen Gunsten entschieden. Heute ist die
Bresche, die Loos gelegt hat, längst keine bloße Bresche mehr,
sondern ein breites Tal, in dem auf breiter Front vorgerückt
wird. Wir kennen die führenden Namen aus dieser Front fast
alle vom „Weißenhof“ her.


Innenraum der Schweizergruppe, Stuttgart 1927. Ja wir sehen
heute zwischen Loos und uns bereits einen beträchtlichen Ab-
stand. Bei Loos erscheint uns vieles noch befangen. Man ist
seither zu wesentlich größerer Reinheit durchgedrungen. In
den Arbeiten — nicht in der Erkenntnis! In der Erkenntnis

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