Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

DOI Artikel:
Gaupp, O.; Whistler, James McNeill [Gefeierte Pers.]: James Mc Neill Whistler
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0280

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
228

James Mc Neill Whistler f.
Von Dr. O. Gaupp (London).

„Glauben Sie, Sie könnten machen, dass
ich die Schönheit dieses Bildes sehen kann,“ frug
der Staatsanwalt. Whistler sah ihm lange und auf-
merksam ins Gesicht und antwortete dann: „Nein.
Wissen Sie, ich fürchte, das wäre ebenso hoffnungs-
los, als wenn ein Musiker seine Noten in das Ohr
eines Tauben gösse.“ Wir entnehmen diesen charak-
teristischen Passus den Akten des grossen Prozesses
„Whistler versus Ruskin“, in dem Anno 1878 vor
einer naiven britischen Jury zwei Kunstrichtungen
grimmig aufeinander platzten, und in dem Whistler
die Kunst „gegen die gemalten Gemeinplätze ein-
gerahmter Moralität“ rechtfertigen wollte. Als
Whistler seine grosse Tätigkeit begann, hatte man
in England und nicht nur in England das „Sehen“
verlernt. Der Staatsanwalt war damals nicht der
einzige Farbenblinde! Wenn man heute wieder
sieht, ist es nicht zum mindesten das Verdienst des
Mannes, der letzten Freitag in Chelsea gestorben
ist, und den heute die englische Kritik, die ihn
früher verspottete und verhöhnte, einmütig als einen
der grossen Meister, deren Werke bleiben, ver-
herrlicht.
Mit Worten und Taten hat Whistler unermüd-
lich gepredigt, dass der Maler malen muss, dass
seine Kunst an einen Farbensinn appelliert, der dem
Ohr des Musikalischen entspricht, dass er, was
seine Seele bewegt, allein durch malerische Mittel,
durch die Harmonien und Dissonanzen von Licht,
Schatten und Farbe auszudrücken hat. Eine un-
bändige Neigung zu Paradoxen und Epigrammen,
ein unbändiger Künstlerstolz, der die „Philister“
zu shokieren liebte, haben Whistler oft verleitet,
seine eignen Ansichten bis zur Karikatur zu über-
treiben. Er tat zuweilen, als ob die Kunst mit
Gemüt und Gefühl gar nichts zu tun habe, als ob
Malen nichts anderes sei, als „Farben arrangieren“.
Man denke an die seltsamen Titel, die er seinen
Bildern zu geben liebte! „Die Kunst, sagt er ein-
mal, muss allein stehen und an den artistischen
Sinn des Auges appellieren, ohne das irgendwie
mit Gemütserregungen zu verwechseln, die ihr
ganz fremd sind, wie Frömmigkeit, Mitleid, Liebe,
Patriotismus u. s. w. Alle diese gehn sie gar nichts
an und darum bestehe ich darauf, meine Werke
„Arrangements“ und „Harmonien“ zu nennen.“
Mit diesem Argument verteidigte er es, wenn er
das berühmte Bild seiner Mutter ein „Arrangement
in Grau und Schwarz“ nannte. „Das ist es, was
es ist. Mir persönlich ist es interessant als ein
Bild meiner Mutter, aber was kann oder sollte dem

Publikum an der Identität des Portraits liegen?“
Whistler hatte ganz recht; wen das Bild darstellt,
ist ganz gleichgültig; die Feststellung der Persön-
lichkeit macht es weder schöner noch hässlicher.
Was aber nicht gleichgültig ist, ist, dass dieses
„Arrangement in Grau und Schwarz“ ein mensch-
liches Wesen darstellt, dass es verehrungswürdiges
Alter in charakteristischsten Linien und verstärkt
durch den Ernst der Komposition und die wunder-
bare Zartheit des Tones zeigt. Whistlers Bilder
sind in der Tat die beste Wiederlegung der Ueber-
treibungen seiner Theorie. Sie sind höchste Kunst
nicht bloss wegen ihrer technischen Vollkommen-
heit, nicht bloss als vollkommen wiedergegebene
Eindrücke des malerischsten Auges, sondern vor
allem auch darum, weil sich in ihnen „jenes Gefühl
von Liebe, Ehrfurcht und Verehrung ausdrückt,
das der Mensch, um gross zu sein, für irgend ein
Wesen, eine Erscheinung, ein Symbol haben muss,
und das Whistler, wenn er es auch in Worten nicht
laut werden liess, für die Natur, wie er sie sah und
las, hatte.“
Man wird jedenfalls gerne zugeben, dass eine
Zeit, in der die Zwittergattung einer litterarischen
Kunst suprem herrschte, einen Mann, der wie
Whistler bis in die Fingerspitzen Künstler war, zu
Uebertreibungen geradezu herausfordern musste.
In den Jahren, in die sein Hauptschaffen fällt, war
nichts notwendiger, als wieder und wieder mit
grösster Schroffheit zu betonen, dass das „Wie“
in der Kunsterzeugung unendlich wichtiger ist, als
das „Was“. Und darin hatte Whistler jener Zeit
gegenüber ja durchaus Recht, dass die Natur in
ihren Erscheinungen schön und interessant ist ohne
alle poetische Zurichtung und zwar überall —
wenigstens für das Auge des wahren Künstlers —,
dass der Maler sein Material und seine Inspiration
in der Welt, in der er lebt, finden muss und kann,
und dass, wenn er das nicht kann, daran eben sein
Auge und nicht seine Zeit schuld ist. Whistler
predigte Modernität als ein Prinzip und seine eigenste
Grösse liegt zuletzt darin, dass er in der wirklichen
Welt, in der er lebte, stets neue Schönheiten ent-
deckte, an denen man bisher achtungslos vorüber-
gegangen war, und in frischestem persönlichen Ein-
druck aus ihr ewige und unerschöpfliche Harmonien
aufnahm und andern sichtbar machte. An Whistlers
technischer Meisterschaft zweifelt heute wohl niemand
mehr. Ein absolut sicherer Blick für Ton und
Farbenwert, ein feinstes Liniengefühl, eine meister-
hafte Oekonomie der Mittel, ein instinktives Ver-
 
Annotationen