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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Wagner, Martin: Die neue amerikanische These im Städtebau: eine Bilanz über die Entwicklung der amerikanischen Städte
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0231

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Massen (die „Bronxer" und die „Hobokener") drängen sich in „Motor-
städte" entlang den Ausfallstraßen und haben begonnen, in das Land in
vielen radikalen Strömen zurückzufließen.

Der wirkliche Inhalt dieser Ströme ist jetzt unter dem präzisen und
unübertriebenen Ausdruck „Motorschlamm" (der Name stammt von W.
P. Eaton) erkannt worden. Und so ist die große City, die von außen
durch einen Strom (Ueberstrom) von Gütern bedroht wird, selbst die
Quelle eines bedrohlichen Flusses, der die Außenbezirke überschwemmt.
Und dies bringt uns auf die menschlichen Empfindungen, die in Amerikas
Bevölkerungsfluß begründet sind.
Menschliche Betrachtungen.

Einerseits Schicksal, andererseits Bestimmung. Das ist der Unterschied
zwischen den Belangen des Bevölkerungsflusses und des Warenflusses.
Bei dem letzteren ist das Endziel die Lieferung weltlicher Güter in des
Verbrauchers Heim. Bei dem ersteren besteht das Ziel darin, das Heim
selbst und die Gemeinschaft der Heime zu schaffen. Jeder der amerika-
nischen Bevölkerungsflüsse hatte zum Ziel, eine Verbesserung des
menschlichen Lebensniveaus zu erreichen. Dieses verbesserte Niveau
besteht aus zweierlei — bessere Behchäftigung und besseres Heim. Ein
besseres Heim besteht aus einem besseren Hause und aus einer besseren
Gemeinschaft und die zweite ist die Grundlage der ersteren. Soziale
Umgebung ist die Grundlage des Individuellen. Der Warenfluß bedingt
die physische Bestimmung, der Volksfluß das soziale Schicksal. Die Um-
gebung ist die allgemeine Substanz unseres gesamten menschlichen
Lebens. Nur durch Besserung dieser allgemeinen Substanz kann unser
Leben gebessert werden. Drei Formen der Umgebung sind es, von denen
menschliche Wohlfahrt abhängt:

1. Die uranfängliche Umgebung, aus der wir entspringen,

2. die Umgebung der Gemeinde, in der wir als soziale Wesen auf-
wachsen,

3. die ländliche Umgebung, die die beiden anderen überbrückt.
Zusammengenommen ergeben diese drei den Ureinfluß, den wir die ein-
geborene Umgebung nennen. Diese bildet die Quelle menschlichen
Lebens und Kultur, so wie die Erde selbst die Quelle materiellen Lebens
und Betriebes ist. So wie wir den Betrieb aufrecht erhalten durch Be-
nutzung der natürlichen Hilfsquellen von Boden, Holz und Wasserkraft, so
erhalten wir die Kultur aufrecht durch Entwicklung der natürlichen Hilfs-
quelle der eingeborenen Umgebung. Und die wahre Stadt ist ein Teil
dieser Hilfsquelle.

Aber nicht die Pseudostadt( genannt Metropole, ihr Inhalt ist einge-
drungen, nicht eingeboren, sie ist eine Masse, keine Einheit, eine An-
sammlung, keine Gemeinde. Die Metropole ist die Quelle der „Großstadt-
invasion", des „Zurückflusses". Dieser Rückfluß formt gerade jetzt die
amerikanische Zukunft. Die metropolischen Kräfte, blind aber machtvoll,
arbeiten durchsetzend, gewisse amerikanische Kräfte, allmählich bewuß-
ter werdend, arbeiten bodenständig. Die letzteren machen auf drei ge-
trennten Wegen ihren Fortschritt:

1. Erhaltung der unberührten (wilden) Gegenden entlang der Gebirgs-
züge oder sonstwo (Naturschutzbewegung),

2. Führung des Rückflusses in dem Sinne, nicht Anhäufungen zu erzeugen,
sondern Gemeinden (Städteplanungsbewegung),

3. Reinigung der Ausfallstraßen (Fernstraßen) vom Motorschlamm (Fern-
straßenreformbewegung).

Auf diese Weise würden wir auf die Zivilisation einwirken, den einge-
borenen Inhalt zu bewahren, der die Grundlage der eingeborenen
Kultur ist; um so die Prophezeiung Henry Adams zu erfüllen. Um noch
einmal auf das Empire State Building zurückzukehren: Wir haben die Tat-
sache des Bevölkerungsfließens überschaut — die Geographie des
sozialen Schicksals an einer Stelle der Erde, Bilder( die sich von der

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amerikanischen Metropole abheben. Das eine Bild ist der Güterfluß
gegen die Citytore, das andere der Rückfluß hinaus, jedes ein City-
problem. Ende oder Spitze der Zivilisation? Niemand weiß es!

3. „Nationale Arterienverkalkung" („National Arteriosclerosis")
von R. Lesher.

„Wie alt bist du? — Du bist so alt wie deine Arterien! Wie alt ist deine
Gemeinde? — Deine Kommune ist so alt wie ihre Verkehrsadern! Wie alt
sind die Vereinigten Staaten? — Die Vereinigten Staaten sind so alt wie
ihre bestehenden Transportadern!

Gerade wie du in Verbundenheit stehst mit deinem Heim und seinen
Bequemlichkeiten, so soll dein Haus und deine Arbeitsstätte mit der
Gemeinde und ihren Vorteilen verbunden sein. Wie dieGemeinde
ein lebendes Aggregat all unserer Heime Arbeits-
und Erholungsstätten ist( ist die Nation ein lebendes
Aggregat all unserer Gemeinden, Industriezentren
und Parkanlagen, das unseren Städten ein gesundes
Funktionieren verbürgen soll.

Aber es treten Anzeichen von Krankheit in die Erscheinung. Wie wir in
einem Aufenthaltsraume nicht merken, wie schlecht die Luft ist, b i s w i r
insFreiegehen,somerkenwirauchnicht,daßdieEin-
richtungen unserer Gemeinde schlecht sind, bis wir
in eine andere, besser organisierte Gemeinde
kommen.

Wie im menschlichen Körper die Arterien das Blutzirkulationssystem dar-
stellen, wobei die roten Blutkörperchen die Sauerstoffträger sind und die
weißen Blutkörperchen die Dienste der Polizei, des Militärs und der
Marine verrichte^ so stellen in dem Körper der Nation die Fernstraßen,
Eisenbahnen und Kanäle die Arterien dar. Die Aederchen sind
die Straßensysteme unserer Städte. Die Blutkörper-
chen sind die Vehikel zu Land, Wasser und Luft in der
Form von Autobussen, Eisenbahnen, Schiffen, Kanal-
booten usw. Das Nervensystem bildet unser Telefon,
derTelegraph und Radiodienst.

Aber unsere Fernstraßen unterliegen so vielen Kontrollen, als da Städte,
Bezirke, Staaten und Regierungsverwaltungen an ihnen liegen.
Unsere Eisenbahnen unterliegen so vielen Jurisdictionen, als da Eisen-
bahngesellschaften und staatliche Eisenbahnkommissionen vorhanden
sind.

Unsere Flüsse und Seen stehen unter so vielen Aufsichten, als da Sied-
lungen an ihren Ufern liegen, wozu noch die Ingenieurkorps, die Strom-
verwaltungen, die hydrographischen Büros, Flußkommissionen usw.
kommen.

Unsere Autobuslinien unterstehen so vielen Direktoren, als es Kompag-
nien gibt.

Unsere Schiffe, Dampfer und Kähne unterliegen so vielen Betriebsver-
waltungen, als da Schiffs- und Wasserwegskonzerne einschließlich Agen-
turen der Regierung am Werke sind.

Kurz gesagt: da ist keine Vollkommenheit, kein Gehirn,
kein nationaler Plan. Allerdings wird reguliert, und
zwar viel reguliert, aber immer nur im negativen Sinne. Es ist das eine
andere Art von Prohibition, die wir ja — als Nation — für so
vorteilhaft halten. Der Effekt dieser nationalen quasi — Vergiftung zeigt
sich in den Geweben unserer Städte. Wir leiden dort nicht nur an schlech-
ter Luft, sondern auch an der Unordnung des Beförderungswesens,
dessen Manager in ihrer Profitsucht sich nicht um die der Allgemeinheit
entstehenden Nachteile sorgen. Dieser Selbstvergiftung folgt die lokale
Verstopfung auf dem Fuße: das Stadtstraßensystem, vordem angemessen,
wird ungenügend.
 
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