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Die neue Stadt: internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur — 6.1932-1933

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Wagner, Martin: Die neue amerikanische These im Städtebau: eine Bilanz über die Entwicklung der amerikanischen Städte
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https://doi.org/10.11588/diglit.17521#0232

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Die Gemeinde kann zur Besserung keine Initiative von außen erwarten,
sie muß von innen kommen, von uns allen, die wir die wachsenden
Steuern, Eigentumsverluste und höhere Preise, die zu vermeiden wären,
fühlen.

Es gibt eine wi rtschaftliche Dreieinigkeit : Produktion,
Verteilung und Verbrauch. Ein Problem der Produktion gibt es
nicht mehr. Das eine bestehende Problem ist das der physischen Ver-
teilung, d. h. das Beförderungswesen. Das andere bestehende Pro-
blem ist das des Verbrauches, an dem unsere Städte zu Grunde gehen
können( wenn wir nicht diese Krankheit heilen, die aus Unterernährung
und ungleichmäßiger Zirkulation besteht.

Wie viele Städte in den Vereinigten Staaten leiden an dieser Krankheit
und müssen vermittels Stadtplanung geheilt werden? Aus der letzten
Zählung erhalten wir:

Städte über 100 000 Einwohner:

1830 1 202 289 = 7,51% der Gesamteinwohner

1930 93 36 325 686 = 29,59% „
Die ersten 20 dieser 93 Städte stellen 22% der Gesamteinwohner dar.

4. „Nahrung und Volk aus dem Hinterlande." („Food and Folks from the

Hinterland") von O. E. B a k e r.
Vor den Tagen der Eisenbahn und des Dampfschiffes war der größte Teil
des Volkes in der Landwirtschaft beschäftigt, und die es nicht waren,
lebten nicht weit von dem Ort ihrer Nahrungserzeugung. Philadelphia war
in der Kolonialzeit die größte Stadt der Vereinigten Staaten, weil hinter
ihm das größte Gebiet fruchtbaren Farmlandes lag, östlich der Appala-
chian-Berge. Baltimores frühe Entwicklung resultiert aus demselben guten
Hinterland. In China sind die Städte mit wenigen Aus-
nahmen Centren eines Hinterlandes, dessen Radius
ungefähr die Entfernung ist, die durch Wagenbeför-
derung zu annehmbaren Kosten überwunden werden
k a n n. De reicher der Boden innerhalb dieses Kreises, um so größer ist
durchschnittlich die Stadt.

Die Fortschritte des Transportwesens während des letzten Jahrhunderts
haben die Beziehungen zwischen der Stadt und ihrem unmittelbaren
Hinterland aufgehoben außer dort, wo sie durch künstliche Grenzen auf-
recht erhalten sind. In den Vereinigten Staaten und im Britischen
Imperium, den beiden größten politischen Einheiten der Welt, die von
inneren Handelsbeschränkungen frei sind, haben sich dann die Städte
ohne Rücksicht auf die umliegenden Gebiete entwickelt. Man braucht nur
auf den Frühstückstisch zu schauen: Apfelsinen von Kalifornien oder
Florida, beim Engländer von Südafrika oder Australien; das Mehl des
Brotes von Kansas oder Dakota, beim Engländer von Saskatchewan oder
New South Wales; Kaffee von Brasilien oder aus Columbien; Tee von
Indien, Ceylon oder Japan, Zucker von Colorado, Cuba oder Hawaii, beim
Engländer von Java oder Deutschland. Der Transport ist so billig, daß er
beim Kleinhandelspreis nur einen geringeren Faktor ausmacht.
Aber die Verbesserungen im Transportwesen allein bewirken nicht diese
weite Trennung zwischen Verbraucher und Produzenten. Fortschritte in
der Ackerbautechnik sind ein anderer wirksamer Faktor. In China leben
% der Bevölkerung auf Farmen und in den Vereinigten Staaten vor einem
Jahrhundert mindestens -'/s, während in 1930 die Farmbevölkerung in den
Vereinigten Staaten nur 25% betrug. Vor einem Jahrhundert ernährten die
Farmer bei uns eine Bevölkerung, die nur die Hälfte der Farmbevölkerung
betrug, jetzt ist erstere dreimal so groß wie letztere.
Wir haben landwirtschaftliche Gebiete, die inbezug Bevölkerungsdichte
mit Indien und China wetteifern können. Außerdem haben wir landwirt-
schaftliche Gebiete mit der größten Ackerfläche und Ernte pro Arbeits-
kraft, die es auf der Welt gibt. Die meisten Nahrungsmittel für die Stadt-

bevölkerung kommen aus den Gegenden mit reichem Boden, großen
kommerzialen Farmen und spärlicher Bevölkerung. % der Farmen der
Vereinigten Staaten produzieren mindestens %, wahrscheinlich sogar 7/»
des Unterhaltes der Stadtbevölkerung. Zwar sind unsere Städte mit ihrer
Ernährung nicht mehr vom Hinterland abhängig, wohl aber bezüglich der
jüngeren Arbeitskräfte, die in den Fabriken, Läden und Kontoren ge-
braucht werden; und zwar kommen diese hauptsächlich aus den Ge-
bieten weniger guten Bodens.

Neuerdings hat eine Umkehrung in dem Bevölkerungsfluß vom Lande in
die Stadt eingesetzt. Tausende von Unbeschäftigten haben Beziehungen
zum Lande aufgenommen und versuchen dort zu siedeln. Auf den Farmen
werden sie nicht gebraucht, Kapital und ländliche Erfahrung haben sie
nicht. Sie werden daher nicht verkaufende, sondern selbstversorgende
Farmer und werden mit der Zeit vielfach Saisonfarmer (part-time F.)
werden. Die Part-Time-Farmer wuchsen zahlenmäßig schnell mit
der ökonomischen Depression. Vorstadtbahnen, Autos und Autobusse
ermöglichten die Einrichtung von vielen Tausenden von Heimstätten in
der Größe von 1 b i s 2 a c r e s (ein acres = 4 067 qm) entlang den Land-
straßen. Ein Teil von ihnen erzielt Erzeugnisse im Wert bis 250$. Als
„Part-time-Farmen" werden solche Farmen angesehen, deren Besitzer sich
mindestens 150 Tage mit anderen Farmarbeiten beschäftigen und deren
Ertrag 750 $ nicht überschreitet. Derartige Farmen gab es im Jahre 1930 -
339 000. Sie werden weiter anwachsen, wenn eine kürzere Arbeitszeit
allgemein wird. Dagegen wird eine Bevölkerungszunahme auf den Voll-
farmen nicht eintreten.

5. „Manhattan Boom-Town" von R. S. L y n d

Die erkennbaren Vorteile des Großstadtlebens betreffen hauptsächlich
den materiellen Teil unserer Kultur; Beförderungswesen, Hausbau usw.
Der nicht materielle Teil—Gedankenwelt,Gefühl undHandeln — bleiben,
wie üblich, weitgehend unberücksichtigt. Charakteristisch ist dieTendenz.
die nicht materiellen Volksbelange und Sitten, die in simpleren Um-
gebungen gelten, abzuschaffen. Dies wird von manchen als die Emanzi-
pierungstendenz städtischen Lebens begrüßt. In der Großstadt wird die
Kehrseite der Religion, der Herrschaft, des Familienlebens und des Nach-
bartums übertrieben; die schnelle, unpersönliche Kultur
fügt nicht so tolerant wie die Kultur in kleineren
Städten das Erbtum frühererZeiten in sich ein.
Gegenwärtig ist das Großstadtleben, bei all seiner oberfläch-
lichen Politur kulturell der Grenzerstadt sehr ver-
wandt: Waren, Volk und Lärm sind vorhanden — aber die vitalen
Kulturelemente sind nicht entwickelt. Daher das Gefühl von Myriaden
von Großstadtbewohnern, daß sie nun „grade hier kampieren" und vor-
haben — immer morgen — menschenwürdig zu leben. Morgen wollen sie
mit mehr Muße und Zeiteinteilung leben, das Baby soll nicht
länger im Wohnzimmer schlafen, morgen soll mehr
Zeit für Freundschaften da sein, morgen wollen sie
sich der Musik, den Museen und anderen Darbietungen der Groß-
stadt widmen, Darbietungen, die irgendwo zusammengetragen sind, und
zwar aus ihrem Leben hinweg.

Und wie in der Grenzerstadt bezahlt man, weil viel auf dem Spiele steht,
einen großen Preis bei neuen Problemen und bei neuen Unsicherheiten.
Gewiß übersteigen Newyorks Privatschulen die in Kokomo in bezug auf
den Vorteil, Boom-Stadt — Schul-Gelder für ihre Kinder zu bezahlen,
dafür ergeben die öffentlichen Elementarschulen der Newyorker City
ernste Probleme für die Eltern, die es in Kokomo nicht gibt. Newyork
verleiht der einzelnen Frau aus dem Mittelwesten Freiheit, aber die
Metropole hat keine Techniken ausgearbeitet, ihr
zu helfen, einen Mann zu finden, im Gegensatz zu den
kleinen Iniandstädten mit ihrem Ritual der Liebes-

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