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Studien und Skizzen zur Gemäldekunde — Wien, 1.1913

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IV. Lieferung (Dezember 1913)
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Vom gegenwärtigen Stand der ,,Ästhetik''
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https://doi.org/10.11588/diglit.20638#0100

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fassung der verschiedenen einzeinen Beobachter und Beschreiber. Der Vor-
gang bei den Versuchen war im Wesentiichcn der, daß man die Schein-
ender zuerst eine Sekunde iang der Betrachtuug darbot und beschreiben
!ieß. »War das geschehen, so wurde das Biid von neuem eine Sekunde
iang gezeigt und die Aussage ergänzt, oder auch verbessert«. Neben der
Feststellung starker individueiier Verschiedenheiten der einzeinen Beobachter
iehrten die Versuche auch, daß für ein wissenschaftiiches Beschreiben das
kurze, knapp bemessene Hingucken keinen großen Wert hat. ich erwarte
bei einer aiifäiiigen Fortsetzung soicher Versuche, daß man mehr ais bisher
auf den subjektiven Zustand der Beobachter Rücksicht nehme und diesen
ganz besonders studiere, daß man Ermüdungserscheinungen oder voiie
Frische vorher wissenschaftlich feststeiie, auf Temperament, Natureii, Lebens-
weise und vieles Andere genau achte, nicht zuletzt auf vorher genossenen
Alkohol oder Narkotika und Excitantia, auf Füllung oder Leerheit des Ma-
gens, auf den Gesundheitszustand und so fort in langer Reihe. Dann könnte
bei strammer Methodik aus solchen Versuchen manch Lehrreiches für die
allgemeine Psychologie gewonnen werden, und in äußerster Ferne winkt
eine Art Gruppenbildung von solchen, die ein vorgewiesenes x »schön«
und von anderen, die es nicht schön finden, die es gleichgültig läßt und
was der gefühlsmäßigen Feststellungen mehr wären.
Aber da erblicke ich auch den »Rovescio della medaglia«, den »Re-
vers de la medaille«, der in diesem Fall eine Überraschung bietet. Die
ganzen Versuche, wie sie ausgeführt worden sind, oder hier als zu-
künftig skizziert werden, haben mit der Kunst entweder gar nichts
zu tun, oder nur in ganz äußerlicher Weise. Ohne am Wesen
der Sache das Mindeste zu ändern, könnte man die Versuchsmenschen
statt auf Bilder auch auf Szenen des gewöhnlichen unkünstlerischen Lebens
hinblicken lassen, auf Landschaften in der Umgebung, ja auf was immer,
das nach unserer heutigen Auffassung kein Kunstwerk ist. Es müßten
sich dabei dieselben Verschiedenheiten unter den einzelnen Beobachtun-
gen und Beschreibungen ergeben, wie bei der Vorweisung von Bildern.
Denn diese Versuche examinieren zwar die Beobachter, nicht
aber untersuchen sie das Kunstwerk. Für das Verständnis des
Kunstwerkes selbst, seiner Entstehung, seiner Wesenheit leisten derlei Ex-
perimente rein gar nichts, und es muß festgestellt werden, daß die »Ästhe-
tik«, die auf solcher Grundlage aufgerichtet wird, zur reinen Psychologie
zurückfällt, daß eine derlei Aesthetik mit Kunst nicht mehr zu schaffen
hätte, als etwa mit dem motus siderum oder situs viscerum und so fort
ins Unendliche alles dessen, was man nicht für Kunst hält.
Diese Art der Ästhetik gehört vorläufig nicht zur allgemeinen
Kunstwissenschaft, sondern zur allgemeinen Psychologie.
Über all' dies habe ich längst nachgedacht, auch geschrieben 0 und
es ist nicht ohne Vorbedacht geschehen, wenn ich zum Verständnis des
Kunstwerkes mir den Boden der Kunstphilosophie gesäubert und
geebnet habe, indem ich auf das Objekt, auf das Kunstwerk selbst und
dessen Studium losging. Es ist ja klar, daß mit dem »Objekt« nicht das
0 Frimmel: „Zur Kunstphilosophie", wo aut ältere Arbeiten hingewiesen ist.
Bei dieser Gelegenheit muß ich auch aut den Abschnitt über das Bilderbeschreiben in
meinem „Handbuch der Gemäldekunde" aufmerksam machen.
 
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