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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 1 (Erstes Aprilheft 1914)
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Walden, Herwarth: Der Psychologe
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Behne, Adolf: Zur neuen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0006

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Der Psychologe

Dieser Herr Victor Auburtin wurde offenbar
vom Beriiner Tagebiatt wegen seines französisch
anmutigen Namens nach Paris geschickt, um dort
das Schaf im Theodor Woiffspeiz zu spieien. Vor-
her hatte er, wie man weiß, den Tod der Kunst
bewiesen. Seitdem piaudert er abwechseind tiber
Tod und Kunst. Von seinen Piaudereien iebt er
und das Beriiner Tagebiatt ietzt seit dem Tode
des Herrn Caimette. Was so einem Auburtin aiies
auffäiit. „Mit dieser Waffe begab sich Frau Caii-
iaux zuerst in deu Keiier des Ladens, wo sich
eine Art von Schießstand befand und schoß den
Browning ein, in dem sie sämtiiche Kugein auf
eine Zieischeibe abfeuerte. Dabei hatte sie sich
etwas beschmutzt und veriangt dcshaib von dem
Kaufmann Wasser, um sich die Häude zu
waschen." Ein biüiges Veriangen, das nur Herr
Auburtin unbiiiig finden wird. Wenn sich ein
Journaiist jedesmai die Hände waschen soiite, so-
baid er andere beschmutzt, käme er mit keiner
Tinte mehr aus. Mit diesem schmutzigen Wasser
wird die unsaubere Seeie der Mörderin begossen.
Seht, den Mord im Herzen, wäscht sie sich vor-
her noch die Hände, die etwas beschmutzten
Hände, aber, ha, die Biutfiecken gehen doch nicht
ab. Siehe Macbeth, ftinfter Aufzug. So etwas
weiß der Herr Auburtin, der zu der schönen Zeit
iebte, ais die Kunst noch nicht gestorben war.
Aber die Mörderin tat mehr. „Dann bestieg sie
ihr Automobil und fuhr — dieser eigentümliche
Zug ist zuerst heute bekannt geworden — zu
ihrem Zahnarzt, bei dem sie sich das Qebiß revi-
dieren und instandsetzen iieß." Zahn um Zahn
denkt der Kenner der aiten Kunst. Und weiche
Verworfenheit. Soiange iäuft die Qattin eines Mi-
nisters mit verdorbenen Zähnen herum und gerade
vor der Mordbereitschaft iäßt sie sich die Zähne
instandsetzen. Wie andere Leute sich nur an den
hohen Fest- und Feiertagen die Zähne putzen und
die Hände waschen. Frau Caiüaux !egt sich,
eigens zu diesem Zweck, einen Mordtag ein. Bei
so großen Vorbereitungen mußte etwas Außer-
ordentiiches geschehen. Herr Auburtin bemerkt
es ausdrückiich: „So vorbereitet und gprüstet
fuhr sie zu Herrn Cahnette." Bis auf die Hände
vorbereitet und an die Zähne gerüstet. Hätte
Herr Caimette diese Vorbereitungen durch Herrn
Auburtin erfahren — so etwas fäüt einem We!t-
biattvertreter doch auf — der andere We!tb!att-
vertreter hätte weiter bezaMte Artike! aufneh-
men können. Noch teufüscher zeigte sich die
Verruchtheit der Mörderin nach der Tat im Qe-
fängnis. „Sie ging, beg!eitet von zwei Nonnen,
in die Kapeüe und zeigte während der heiügen
Hand!ung, eine Frömmigkeit, dic vie! bemerkt
wurde." Nämiich von Herrn Auburtin. Er, der
aufgekiärte Mann, der Freisinnige, der Gott und
die Frömmigkeit iängst überwunden hat, wird sie
doch nicht einer Frau g!auben, die einen Koüegen
erschossen hat. Einer Frau, die so modern ist,
daß sie sich die Hände wäscht, die Zähne revi-
dieren !äßt und dann ein eigenes Auto besteigt.
Wie unwahr ihre Frömmigkeit ist, zeigt sich für
Herrn Auburtin auch dadurch, was sie d a n n tat.
„Dann wurde sie in ihre Zeüe zurückgeführt, wo
sie einen Romän zu Ende !as und ihr Mittags-
essen einnahm." So etwas tut eine fromme Frau
nicht. Herr Auburtin ist den ganzen Tag aufge-
k!ärt. Auch was Frau Caiüaux aß, ist fiir ihre
Qefühlsroheit bezeichnend. ,.Das Mittagessen be-
stand aus Froschschenke!n, einem Hamme!steak
und einer Fruchtspreise." Froschschenke! ist ganz
verworfen, der reine Mann begnügt sich mit Ham-
melsteak und Fruchtspeise. Herr Auburtin ist
durch seine Beobachtungen ganz verwirrt. Der

Denkcr faßt sich an den Kopf und stützt ihn mit
der ünken Hand und mit der rechten taucht er
verzweife!t in das Tintenfaß: „Und nun, ihr Psy-
cho!ogen, macht euch daran, uns den FaH mit sei-
nen Qegensätzen zu erk!ären. Diese ktuge Be-
rechnung und diesen Wahnsinn; diese Frömmig-
keit und dieses Romanlesen." Ja, wir stehen vor
einem Pätse). Wozu diese Reinüchkeit, wenn
man vieüeicht doch geköpft wird. Auf die paar
Wochen kommt es doch nicht mehr an. Wozu
beten, wenn man hinterher womögüch die Nove!-
!en des Herrn Auburtin üest, gegen die se!bst Qott
uns nicht hitft. Da habt ihr Psychotogen etwas
zu kauen, wogegeu Froschschenke! Kinderuahrung
sind. Herr Auburtin hüft den Psychoiogen ftir
diesen Faü en tout cas mit zwei Erk!ärungen:
Vieüeicht ist Frau Caiüaux „eine ieuer metho-
dischen Wahnsinnigen, die ein Verbrechen mit
der genauesten und ruhigsten Vorsicht berechnen,
die aües erwägen, nur das eine nicht. wctche
Folge ihre Tat haben wird." Diese üchtvoüe
Wahnsinnshypothese scheint se!bst Herrn Aubur-
tin durch die geschüdertcn Vorbereitungen nicht
genügend begründet: „Wir wissen iiber das ge-
seüschaftüche und medizinische Vor!eben der
Frau Caiüaux noch nicht genug, um sageu zu
können, wie weit man sich mit dieser Hypothese
wagen kann." Herr Auburtin wird sich aüe Mühe
geben, um das geseüschaftücbe und medizinische
Vor!eben der Frau Caiüaux bci ihren Domestiken
zu ergründen. Diese Hypothese ist den Schweiß
des Treppensteigens wert. Die andere Erk!ärung,
zur gefäüigen Bedienung ftir die Herren Psycho-
Iogen, ist „daß der Tat aüer!ei ga!ante Motive zu-
grunde liegen." Bedenkt, ihr Psychologen, eine
Frau, die einen Roman zu Ende üest, das gibt zu
denken. Vieüeicht sogar einen gaianten Poman.
Im Lande der Qatanterie. Man kennt doch Frank-
reich ... Ja, beim Souper, da kann man was er-
leben. Dann gehn wir zu Maxim . . . Aber die
Pfücht gestattet nicht, so tiefe Prob!eme zu
ergründen. Fort vom Schreibtisch wird Herr
Auburtin in den Sa!on des Independants getrieben,
den der Präsident der französischen Republik so-
eben besichtigt. Ein Mann, wic Herr Auburtin,
der sich mit den Probtemen vom Leben und vom
Tode befaßt, kann natürlich nicht wissen, daß es
in diesem Sa!on keine BÜder der Futuristeu gibt
und niema!s gegeben hat. Er hä!t aües für futu-
ristisc!i, was er nicht versteht. „In seiner stren-
gen UnparteÜichkeit !egte der Präsideut Wcrt
darauf, auch den merkwürdigsten Kunstproben
der Qegenwart seine Aufmerksamkeit nicht zu
versagen." Herr Auburtin versagt seine Aufmerk-
samkeit gleichfaüs lücht, aber er versagt. Dem
Präsidenten der iranzösischen Repubük ist nach-
zurühmen, daß er nicht iiber „Kunstproben"
schimpft, ehe er sie gesehen hat und daß cr keine
Meinung über Dinge abgibt, für die eine Meinung
zu haben er von Frankreich nicht berufen wurde.
Während die Herren vom Berliner Tageblatt in
BerÜn und Paris berufen sind, eine Meinung über
Dinge zu haben, die nicht ihr Beruf sind, sie aber
in Berün diese unbezah!bare überzah!te Meinung
nicht einmal abgeben. trotzdem sie daftir bezaMt
werden. AIso Herr Auburtin rennt hinter dem
Präsidenteu her: „Ohne eine Miene zu verziehen,
ging er an den ge!ben Eierkisten vorüber und an
der Plastik aus zusammengesetzten Ofenrohren,
die einen venetianischen Qondoliere darsteüen soü."
Der Präsident verzieht keine Miene, während Herr
Auburtin bereits bis an die Ohren grinst. Er hat
zwar dem Berüner TageMatt telegraphisch ge-
me!det, daß der Künstter Archipenko den größten
künstlerischen Erfo)g des Salons hat. Jetzt ver-
schweigt er seinen albernen Witzen zuliebe, daß
diese P!astiken von Archipenko sind. Die Eier-

kisten und die Ofenrohre sind natürüch Kostpro-
ben der Phantasie des Herrn Auhurtin. „Die Be-
g!eitung des Präsidenten fing an unruhig zu wer-
den." Herr Auburtin war sicher nicht aufgefordert
worden, den Präsidenten zu begteiten. Manche
Leute haben eben das Bedürfnis, immer hinterher
zu !aufen. Sie soüten fiir dies bezaMte Bedürfnis
wenigstens ihre Pfiicht anständig erfüüen, Tat-
sachen zu berichten, statt den Psycho!ogen Hypo-
thesen zur Verfügung zu steüen. Und sie soütea
nicht eine Miene verziehen, wei! andere so erzogen
sind, nicht zu !achen, zum Zahnarzt zu gehen, und
sich die Hände zu waschen. Sie soüten kein UrteS
fäüen iiber Kunst und Leben und Tod. was aües
dasselbe aber nicht zu verwechse!n ist. H. W.

Zur neuen Kunst

Dr. Adolf Behne

Ein V o r u r t e i! des Pubükums ist es, sic&
der Kunst vornehmüch auf dem Wege oder bes-
ser Umwege des Begriffes zu nähern. Jeder
Begriff ist eine Abstraktion, und die AbstraktioR
ist etwas Zeitloses. Jeder wirküche rea!e Qegen-
stand aber steht in der Zeit und ist durch sie be-
dingt. Hier Üegt der Stoff zu einem Konfiikt.
Denn beziehe ich den rea!en Qegenstand x in eine
begriffliche Operation ein, so gehen seine zeit-
tichen E!emente mehr oder weniger unter. Die
zeitÜchen E!emente machen aber oft Entscheidea-
des aus, denn in ihnen üegt das Individueüe und
Besondere. Gerade für die Kuust ist es eine Ge-
fahr, wenn zeit!ose Begriffe das Einmalige, Le-
bendige ersticken. Der Begriff „Naturaüsmus"
macht das Wirken von hundert Künsüern prinzi-
pieü g)eic!i, während es sicli in Wirkiichkeit fast
jedesma! um etwas anderes handelt, um ein ganz
anderes Er!ebnis für Qiotto, ein ganz anderes für
Dürer, ein ganz- anderes fiir Manet.

Das Arbeiten mit Begriffen macht in der
Kunstbetrachtung !eicht bünd für das, was ist,
besser gesagt, es macht weitsichtig! Der Be-
* trachter sieht über das Werk des Künstlers hin-
aus, er steüt sich ein auf etwas, das eiue ganze
Strecke weiter iiegt. — Man zeigt ein Büd von
Kandinsky. Der Bürger sieht es kaum an, höch-
stens eiue Sekunde; aber er hat sofort unzählige
Begriffe. mit deneti er g!aubt, Kandinsky erschla-
gen zu können und zu soüen. Er redet sogleich
mit Heftigkeit, errichtet Mauern, baut Schranken,
stabiüert Axiome, er spricht — nicht etwa von
dem vorge!egten BÜde des Kandinsky, kaum von
Kandinsky überhaupt, er spricht von „diesen.
Neuen", den „Jungen", den „Leuten vom Sturm";
er schafft eher ein voüständiges System der
Aesthetik, a!s daß er das vorge!egte Bild von
Kaudinsky nur etwas genauer betrachtete.
Wahrscheinlich hat er es inzwischen überhaupt
schon vergessen. Er hätte dieselbe Rede gehal-
ten, wenn man ihm einen Holzschnitt von Boc-
cioni oder eine Zeichnung von Kokoschka gezeigt
hätte. Es muß also doch woh! leichter sein, mit
Begriffen mehr oder minder logisch zu arbeiten,
als seine Sinne zu konzentrieren; man geht um
ein neues E r 1 e b n i s mit Begriffen herum.
Schon Nietzsche hat den „ausgehöMten Bildungs-
menschen" gescholten, der, „es mag was Qutes
und Rechtes geschehen, als Tat, a!s Dichtung, als
Musik," sofort über das iebendige Werk hinweg-
sieht und den Autor mit Hilfe von Begriffen
seziert, auseinanderreißt, weisüch neu zusammen-
fügt und im Qanzen vermahnt und zurechtweist.
(Unzeitgemäße Betrachtungen II 5)

Noch woüen es ja die meisten nicht wahr-
haben, daß in der neuen Kunst Schönheiten vor-

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