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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 12 (Zweites Septemberheft 1914)
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Döblin, Alfred: Von der himmlischen Gnade
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0086

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Von der himmHschen
Gnade

AHred Döbiin

Kein Land ist an Friediichkeit jenem zu ver-
vergieichen, das in den Tod führt. Das Leben
wöibt sich über dem Kopi wie ein Brückenbogen
und unten fheßt das Wasser, trägt den Kahn, nirnmt
ihn weiter.

Friedrichsfeide bei Beriin; ein heher Sommer-
abend. Die Fredersdorferstraße eng, schiecht ge-
pfiastert; eine Reihe niedriger verfahener Häuser,
Kohienpiätze, BausteHen. Die schmutzigen, ver-
wacltsenen Kinder lärmten nicht mehr draußesn.
Gebückt zog ein aites Menschenpaar von der
Chaussee her itn die Gasse ein, die beiden Naßkes.
Er an der Deichsel des ratternden Hundewagens,
sie daneben, die Hände unter der schmierigen roten
Schürze, die sie wie ein Muff aufgeroHt hatte. Sie
fuhren biicklos die Gasse herauf. unter dem biti-
henden Kastanienbaum hindurch, der schräg
gegenüber ihrem jämmerHchen Häusschen wuchs.

Ein Stiegiitz sprang auf den Baum, hüpfte
Zweig auf, ZWeig ab; nach einigem „Kiwitt, kiwitt,
zwrr" sang er:

„Grün ist der Mai. Mit mancheriei schönen
Blümeiein gezieret sind Berg und Tai. Viele kalte
Brünnlein rauschen, darauf wir Waidvögeiein
iauschen."

Die äußeren Aeste der Kastanien berührten den
hohen Bretterzaun vor Naßkes Häuschen. Hinter
einem verwüderten Hof, auf dem Brennhoiz und
Ziegelsteine stapeiten, einen schmaien Getnüsegar-
ten vor der Front, stand das einstöckige Bauwerk.
Die Fensterscheiben biind, mit Staub bejaden, einige
verhängt mit Lumpen und Laken. im ersten Stock
waren Fenster geöffnet; irgend wer buiierte oben
und wärf von Zeit zu Zeit etwas um. Sie fuhren
in den Hof ein, trabten drin iangsam und biickios.

Der Aite schirrte den Hund ab, an die Leine
unter einem niedrigen Schuppen, schüttete, den
Eimer auf den Knieen und geduckt, dem schnap-
penden Tier Abfaii vor. Sie gingen nicht gieich
ins Haus. Neben dem Wagen, der sich in den wei-
chan Schutt tief mit den Rädern eingrub, saßen sie
auf umgekehrten Kiepen vor dem Gemüsegarten.
'Die Spatzen schrien, der Stiegiitz rief weiter. Der
Aite murrte: „Wat die nn zu krähen haben."

Sie saßen stiii nebeneinander und sahen gerade-
aus. Braune KHnkersteine von Oefen iagen da und
biitzten. Dann fing der Vogei wieder an: „Kwiwitt,
kwiwitt".

„Man wird doch seine Ruhe haben können vor
die Aester"; einen Stein nahm der Aite, schmiß ihn
über den Zaun in das Laub hinauf, der Vogel ftog
fort. Nicht iange fing ieise im ersten Stock eine
Handharmonika an, wimmernd und stöhnend; die
Musik kam hinter ihren krummen jRticken her und
ging mit der Luft. Nach einer Weiie wiegte die
vertrocknete Großmutter den Kopf unter ihrem
Umschiagetuch: „Et zieht; ick jeh rin." U.nbeweg-
iich saß er, mit den Armen auf den Knieen; die
Kiinker fiennten: „Jeh man." Er hörte auf die
Musik.

Die Biicke der heiden waren wie Gummiringe
die äiimähiich überweitet wurden; die Haut hing
wie ein zu weiter Lumpensack um ihr Gesteii.
Graubraurie verrunzeite Gesichter boten sie dem
Licht. Bei Tag fuhren sie Hundefutter durch die
Stadt, an den Markthaiien iasen sie Fieischabfaii.
haibverweste Fische, Kartoffein, Schaien auf. Das
Sprechen hatten sich die Beiden abgewöhnt. ihre
Knochen taten unermüdiich ihren Dienst, Maschi-
nen, die <einmai angeiassen waren, trugen das Herz,
das träge und zögernd sein Ticktack machte, die

keuchenden Lungen; und die Köpfe, auf den ver-
dorrten Häisen schaukeind, wurden mitgeschieppt.

Rasch wurde es finster. Und wie die beiden
auf ihrem stummen Zimmer wirtschafteten, schiug
der Hund an. Ein Mannesschritt kam di<e Stufen
herauf, eine bärtige derbe Gestait steckte den Kopf
in die dunkie Ktiche, knipste seine Tascheniampe
und der weiße Lichtkreis iief über Säcke, Töpfe,
Herd und ein Durcheinander von Konservenbiichsen,
schaiite seine Stimme: „Sind Naßkes hier? ist
das dun'kei! Ne, ist das dunkei!" Ein zweiter Mann
kam herauf, stand neben ihm, ein Schutzmann mit
dem Revoiver am Gurt. Die beiden Aiten saßen
auf der Matratze im Zimmer nebenan. Sie knuffte
ifhn in die Seite, zischte: „Du" und zeigte r.ach der
Küche. Er tat ais ob er schiief. „Warten Sie mai,
Fiebig, Sie brauchen nicht mitzukommen". sagte
der bärtige Mann an der Küchentiir, „bieiben Sie
drau&en, iassen Sie aber die Hoftür offen." Vor-
sichtig stieg er durch die versteiite Kiiche, stieß
die Stubentür auf: „Warum meidet Ihr Euch denn
nicht? Wenn man Euch ruft? Was? Sie sind
Naßke?" Der Aite krabbeite unter dem stechenden
fahndenden Lichtkreis hoch, stützte sich gegen die
Wand. „Sind Sie Naßke? Sagen Sies doch. Wo ist
denn die Aite? Na, verkriechen Sie sich man nicht,
Großmutterken; wir kriegen Ihnen schon."

Er hob sie unter den Lumpen hoch: „Die Bee-
nekens taugen wohl nicht mehr. Aber es iangt
noch. Sie soileu jestohlen haben, Sie beeden." Die
Alte kreischte, hob die Hände über den Kopf und
drehte sich nach der dunklen Wand zu. „Ne, oile
Dame, schreien hiift nischt. Stehen Sie mal janz
uff; Sie soüen mitkommen uffs Revier." „Ick hab
nich jestohlen, Herr Wachtmeester" plärrte die
Frau. „Das können Se nachher erzählen. Hut haben
Sie woll nich? Naßke, wo habt Ihr denn det Jeld
verstochen?" „Ick hab nischt jestohien und ick
häb nischt jestohlen." Sie gingen vor dem kräfti-
gen Mann mit gesenkten Köpfen her. „Nu mach
man bloß kein Klamauk hier; habt Ihr natürlich
gleich verschoben. Fiebig, Sie gehen mai rauf hier
oben. Dett sind doch Eure Freinde, die lange
Emma und der dufte Rutschinski, alies auf einen
Haufen. Den Leutchen gehört der Hund, Fiebig;
sagen Sie von wegen Nummer sicher mit die Naß-
kes und kucken Sie sich ein bißchen um." Er fiü-
sterte dem Schutzmann ins Ohr: „Vorsicht; ich
warte soiange."

So kamen die beiden nach Moabit. Sie hatten
am Vormittag in einem Haus von Rummeisburg
den Müileimer durchsucht. Ais sie mit ihrem Sack
durch den Hausfiur kamen, stand ein Bierwagen
vor der Ttir; der Bierfahrer hatte einen leeren
Bierkasten im Hausfiur abgestelit, während er
durch einen Hintereingang eine frische Ladung in
die Restauratio.n trng. Versehentlich tat der Mann
sein Beuteichen mit Kieingeid statt in die Tasche
in ein Schubfach des leeren Kastens. Naßke griff
unbedenkiich im Vorübergehen danach; sie fuhr
ängstiich hinter ihm her, schimpfte ieise: „Wat
wiilste denn damit? Leg wieder hin." Er tauchte
den Beutel in seinen gieichmtitig äbgeschuiterten
Lumpensack, öffnete die Tür, sie sockten langsam
mit ihrem Wagen um die nächste Ecke. Die Frau
schob hinten an dem Karren; sie war ängstlich;
er hatte das Gefühl: „Die Sache hat ihre Ordnung;
dem Dicken haben wirs besorgt." Er kaufte sich
bei einem Händier in der Kneipe eine Stange extra-
feinen Priem; sie ein päar woilene Pulswärmer,
eine Fiasche stißen Likör nnd ein kariertes Um-
schiagetuch. Der Rest des Geides wurde am Bo-
den zwischen die Bretter des Karrens geklemmt.

In Moabit saß er zusammen mit einem behäbi-
gen schiauen Bruder, der schon öfter ein Ding ge-
dieht hatte. Zuietzt hätte er eine schöne Stange

Geld geerbt, erzähtte er dem Alten, den er mit den
Worten begrtißte: „Mensch Dir hätten Se ooch iie-
ber gleich in de Müilkute lassen können." Er
suchte „die olle Mumie" zu bewegeu, ihm etwas
zu erzählen. AIs der schwieg und immer giftig
auf die Dieie hinsah, reizte er ihn: „Wat hast Du
denn jeklaut? Nen doten Heringsschwanz, wat?
Und denn gleich jekocht in de Sechserkneipe und
alieene uffjefressen." Der Alte blieb stumm. Er
war mit einem dumpfen Grimm gefüllt; wenn er
störrisch die Suppe herunterschluckte und seinen
Teiier ausieckte, fuhr der Dicke vor ihm zurtick:
„Bciß mir man nicht; sonstens besteii ick nen
Mauikorb."

Eines Morgens greinte und quackte Naßker
„Meiu Zahn wackeit." „Wat soii ick denn damit?"'
„Ick wili nen Baibier haben für mein Zahn." „Wat
is?" „Ick wiii nen Baibier haben." „Laß Dir aus-
steilen im Zooiogischen, oiier Aife mit Dein Zahn."
Der Alte knarrte weiter; der ändere meinte ruhig:
i.Wenus de noch viel jauist, kriegste eins in die
Fresse und der Zahn hoppst raus." Zwei V/ochen
saß Naßke; am Abend bevor cr entlassen wurde,
brummte er wieder. Der Gauner fragte: „Wat
möchste?" Naßke sah vergrämt vor sich hin und
sagte nach einer Pause: „Wat man möchte? Alan
möchte am iiebsten dot sin."

Im ersten Stock bei Naßkes wohnte Emma mit
dem duften Rutschinski. Rutschinski ging in der
Zeit, während die beiden festgenommen wurden,
nicht äus, weil er sich den Fuß auf der Treppe um-
geknickt hatte. Er war ein großer schianker Mann,
hatte ein schönes voHes Gesicht. Seine schöne
Figur hatte sein Schicksai bestimmt. Sobaid er
das erste Mal keine Arbeit fand und spazieren
ging, entdeckten zwei ledige Fräuleins seine
schwarzen Haare und die stumpie Nase, dazu ein
paar grade Beine. So spazierte er bald weiter mit
einer samtenen Mütze und der kecken Strizzilocke
auf der Stirn; die ledigen Fräuleins arbeiteten für
ihn. Nun beschtitzte er die lange Emma, ein blon-
des ehemaliges Kindermädchen. Wenn es soweit
war mit dem Geld, woilten sie heiraten und ein
Gemüsegeschäft aufmachen. AIs die Naßkes in
Moabit saßen, sagte Rutschinski, Emma solle mal
wo einen ordentlichen Griff tun, sie wollten den
alten Leuten ein kesses Abendbrot zukommen las-
sen und einen Anwait bestellen.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr entstand
vor der benachbarten Rettungswache ein großer
Lärm. Emma wurde von einem Mann hereinge-
führt am Arm. Sie torkelte. Sie hatte eine Kratz-
wunde an der Stirn, ihre Nase und Oberlippe blu-
tete; in 'Strähnen fiei ihr das blonde Haar zotteiig
auf die Schulter. Die Blumen auf ihrem Hut waren
halb heruntergerissen; die weiße Bluse mit Stra-
ßenschmutz .beklebt. Der Mann hielt ihren Sonnen-
schirm in' der Hand; er war mitten entzweigebro-
chen, die Stangen mit dem roten Bezug hingen.
Aus einer Seitentür des heiien viereckigen Raumes,
in dem Instrumentenschränke, Verbandkästen
standen, stampfte gewichtig eiu älterer Mann in
einer weißrotgestreiften Bluse mit bioßen Armen;
er trug eine Stahlbriiie, in der Mitte des Schädels
waren ihm die Haare ausgegangen; an den Seiten
wuchsen sie buschig nach vorn, schwarz und grau.
Er sah, die Arme in die Seiten gestemmt, zu, wie
der Arbeiter prustend das Mädchen über den Bo-
den schieifte und hingleiten iieß. Er kommandierte:
„Legen Sie den Schirm daneben. Die Person ken-
nen Sie natierlich nich? Na, dann kennen Se
gehen."

Emma schnarchte; der Schleim hing ihr aus
dem Mund; ein Dunst von Schnaps und Tabak-
rauch ging von ihr aus. Die Treppe im Hinter-
grund des Raumes sprang, ein Herr im weißen

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