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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 15/16 (Erstes und zweites Novemberheft 1914)
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Kohl, Aage von: Die Hängematte des Riugé
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0105

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Die Hängemalte
des Riuge

Aage von Koh]

Der Qemeine Riuge iiei mit ganz wagerecht
liegenden Körper. Sein breites schweres Kinn
lag nach vorn, er Hef mit gebeugten Knien
die Flinte in der Rechten, schneH über die kleine
Lichtung im Walde, hin gegen die dichten Sträu-
cher, die an der Waldkante standen.

Links von ihm lief sein Schatten, gleich einem
Fuchs; der Qriff der Fiinte bildete den dicken
Schweif.

Korpora! Kinza lief zwanzig Schritt dahinter.
Er lief in derselben Stellung wie der Bruder und
hörte das schnelle Schmettern ihrer beiden
Schritte, als sie iiber welkes Laub und diirre
Zweige liefen.

Kiuge hatte die Sträucher erreicht. Er hob
die Flinte und gebrauchte sie wie ein Messer, um
damit die verwilderten struppigen Zweige durch-
zusägen. Er sah die flache Ebene vor sich, nur
noch ein paar Schritte.

Der Korporal kam nach. Er stand still im Qe-
büsch und konnte den Weg sehen, den der Bru-
der gebahnt hatte. Die Blätter rauschten wie
schnell fließendes Wasser. Kinza hörte ein Ras-
seln und alles wurde still, eine Sekunde. Er hob
mit einem Ruck den Kopf und horchte. Qanz
vornübergebeugt stand er da mit den Händen wie
gelbe Schrauben um die Flinte. Seine Augen und
Ohren spannten sich.

Er hörte die Stimme des Bruders — ganz fremd
und wunderlich Mang sie, als ob sie sich wand
oder lief —:

„Kinza, lauf zurück. Zur Abteilung. Sie kom-
men nicht vorwärts hier."

Der Korporal drängte sich ein paar Schritte
vorwärts.

„Was ist los?" fragte er und machte einen
Iangen Hals, um sehen zu können, wo der Bruder
war. Wo blieb den Kiuge? Es fing an, in ihm
zu hämmern und zu zittern.

Er drang noch ein bischen vorwärts im Dik-
kicht, die Blätter streiften sein Qesicht wie kalte
Finger, er guckte überall.

„Lauf zurück, aber schnell!" sagte Riuge.
Kinza hörte, als teilte ein Messer dessen Wprte.
Er beugte sich nach vorn und mit einem Ruck
sah er den Bruder. Nur den Kopf. Er lag auf
den welken Blättern der Erde wie auf einer
Schiissel.

„Was ist denn?" sagte er halblaut und fühlte
zum ersten Mal in seinem Leben, daß Riuge von
denselben beiden Menschen geboren war wie er
selbst. Er beugte sich noch mehr vorwärts und
sprach leise, die Schützengraben der Russen lagen
kaum zweihundert Meter entfernt: „Was ist
los?" —

Im selben Moment verstand er es: die Rus-
sen hatten Löcher gegraben hier an der Wald-
kante. Die Oeffnungen waren mit Blättern und
Zweigen verdeckt. In eine von hinen war Ri-
uge gefallen.

Kinza sah zurück und horchte. Es war kein
Laut zu hören. Die Abteilung war also nocb weit
weg. Dann hatte er noch Zeit. Er warf die
Flinte fort und kroch auf Händen und Füßen zu
dem Bruder hin.

„Qib deine Hände her!" — sagte er schnell —
„komm, ich kann dich heraufziehen!"

Aber jetzt sah er das Qesicht des Bruders.
Rote entzündete Flecken bedeckten seine Wangen
und die dicken Lippen hatte eine schmerzvolle
S-Form angenommen. Und Kinza erinnerte sich

mit einmal, daß die Russen inre Löcher mit gan-
zen Knäueln von Stacheldraht zu überspannen
pflegten.

Riuge hatte die Augen geschlossen.

„Lauf zurück!" sagte er, seine Sthnme war so
dick wie WoIIe. Er wußte kaum selbst, warum
er es für so eilig hielt, daß die Kameraden ge-
warnt werden mußten, ehe ihm geholfen wurde.

„Verhindere sie durch den Wald zu gehen.
Sie müssen herum gehen. Es dauert zu lange mir
zu helfen!"

Kinza hob sich auf die Knie. Er dachte daran,
daß dies selbstverständlich nicht das einzige Loch
sei. Es waren sicher mehrere. Qanze Reihen.
Die Abteilung wtirde nie durchkommen können.
Und eine ganze Viertelstunde wiirde es dauern,
Riuge zu helfen.

„Aber-" sagte er schwach, und fühlte wie-

der, zum zweiten Male, daß Riuge sein Bruder
war. Sein ältester Bruder, sein Freund und
sein Herr.

Aber Riuge öffnete die dicken Lippen, seine
Stimme war müde und dumpf —:

„Los jetzt! Nachher kannst du zurückkom-
men-".

Und seine Augen schlossen sich wieder, als
schnitt sie die Sonne, furchtbare, gewaltige Zuk-
kungen liefen über sein Qesicht.

Die Blätter rauschten im Walde, und Kinza
sprang durch das Dickicht.

„Komme gleich!" rief er dem Bruder zu, und
war schon weit weg.

Riuges Rechte lag frei. Sie hielt sich fest um
die Flinte. Die Finger waren ganz gelblichweiß
geworden. Der Zeigefinger öffnete und schloß
sich immerfort. Er biß die Zähne zusammen, und
versuchte an etwas anderes als an die Stacheln
zu denken. Eigentlich war es fürchterlich dumm
von ihm, sich nicht vom Kinza zuerst helfen zu las-
sen. Warum hatte er dies getan. Woher kam die
Idee, daß die Leute gewarnt werden sollten, zu-
erst! AIs er merkte, daß die Erde unter ihm nach-
gab und die scharfe Spitze in sein Fleisch ein-
drang, kam ihn diese Idee.

Es ging ein Draht gerade vor seiner Kehle. Bei
jedem Atemholen schnitt es ein. Er versuchte sich
ein bißchen nach hinten zu biegen, aber merkte
dann zuerst, daß da auch ein Draht gespannt war,
der schon die Haut Iosgerissen hatte. Sie hing in
Fetzen mit dem schwarzen Haar, es sah aus wie
eine Pelzmütze. Kinza kommt ja bald wieder,
dachte er, und wierderholte immer und immer die-
sen Gedanken, er zwang sich zu vergessen, daß er
über einem Stacheldraht ritt, mit seiner ganzen
Schwere. Er versuchte sich ein bißchen zu heben
dadurch, daß er die Hand um den Stacheldraht
daoben klemmte, die ganze Spitzen in seine Hand
drängen ließ, um sich leichter zu machen.

Es war, als liefen wunderlich gliihende lang-
same Ströme durch seinen ganzen Unterleib, wo
die Spitze schon die Kleider durchgestochen
hatten.

Die rechte Hand zitterte um die Flinte.

Wenn er nur schießen könnte. AIs Dank für
diese Hängematte, die sie für ihn gemacht hatten.
Außerdem, ein niederträchtiges Pech hatte er ge-
habt. Auch heute Späher zu sein. Immer war er
Späher. Immer die schlimmste Arbeit. Ja, es
war dieser Leutnant, der ihn nie leiden mochte.

„Jetzt haben Sie ja eine gewisse Uebung be-
kommen!" — sagte er, der Leutnant Hirai —
„bitte sehr 294 — vorwärts, an die Spitze." „Wenn
er nur den Draht da am Beine los werden könnte.
Sein Kopf glitt vornüber einen Moment. Die Lip-
pen waren wie poröse rote Tüten, wo das Blut
austropfte. Es gab ihm einen Ruck: er hörte, von

Weiten ein langsämes Tuten. In einer Sekunde
ging eine schnelle heiße Freude durch ihn. Wär
hier jemand? War jemand anders auch in eins von
diesen verdammten Löchern gefallen?

Ist hier jemand?

Aber der Laut war nicht mehr zu hören. Und
er versuchte wie früher seine Gedanken auf an-
dere Sachen zu lenken, daß er nicht an diese Spitze
denken mußte, die durch sein Fieisch fuhren. Wenn
Kinza bald zuriick wäre! Jetzt müßte er doch die
Abteilung schon längst erreicht haben! Was wür-
die Kameraden sagen? Und der Leutnant Hirai?

Riuge bereute eine Sekunde im Ernst. daß er
den Bruder zurückgesandt hat. Erstens seiner
selbst wegen. Und zweitens, Leutnant Hirai hätte
er so ein Bad geru gegönnt. Obgleich, ein tüchd-
ger Soldat war er ja. Aber grade deshalb! Es war
bei Qott kein Kunststück, ein guter Soldat zu seiit,
wenn man auch verlangte, daß andere es sein
sollten!

Na, es war doch gut so wie es war. Jetzt könn-
ten die Kameraden sich seinetwiHen ordentlich
rächen an den Schurken da oben, die sowas mach-
ten, um Leüte zu iangen.

Seine Gedanken glitten auseinander. AIs
schnitt sich der Schmerz vou da unten durch -aa,
a-a-a-a-a, wie langsam und scharf und bitter es
ging. Durch den ganzen Körper bis in den Kopf,
gerade zwischen die Gedanken, die er denken
wollte. Es saß wie eine große, blanke, widerlich
scharfe uud heiße Stahlklinge, zwischen seinem
Qehirn. Die Sonne schien darauf, als ob sein
ganzer Kopf neben einem Feuer läge oder als oh
er mit Augen ohne Lider in die Mittagssonne

Wenn er nur denken konnte! An was, das
wäre einerlei!

Ja, Hirai, der Schurke. Immer stellte er ihn
dahin, wo es schlimtn . . . Ah, der Draht. Die
Sonne! Die linke Hand. Die Stahlklinge. A-a,
a-a. war hier nicht jemand? Wer ist es? Feld-
ruf! Wer tutet? Ah, Kinzachen, denke daran, daß
du tnein Brudet bist. Ja — ich reite über deu
Draht! Beeilt euch jetzt.

Denkt daran, daß ich euch davor gerettet habe.
Warum, das weiß ich nicht, aber gleichviel. Ja
— ja. Komm, komm! Meine Iinke Hand, meine
linke Hand! Und die Stahlklinge. Denke daran
dar-an Nimm sie fort, fort! Denke, wie das ist,
eine Stahlklinge auf den Kopf zu haben, balanzie-
rend. ein klein bischen und es gilt das Leben!

Es war keiner in der Kompagnie, der wußt$,
daß Korporal Kinza und Gemeiner Riuge Brüder
waren. Die Umstände hatten von Riuge gefor-
dert, daß er einen anderen Familiennamen ange-
nomrnen hatte.

„Meinetwegen ist es nicht nötig!" sagte Kinza,
da er und der Bruder sich als Freiwillige in der
Armee meldeten, „nenne dich wie du willst!"

Riuge verzerrte seine häßliche Fratze mit den
dicken blutroten Lippen quer über dem breiten
Qesicht wie Marken von Peitschenhieben. Seine
kleinen Augen blinzelten zu dem Bruder:

„Danke!" sagte er grinsend, „aber behalte du
lieber deinen Rat für dich!"

Riuge hatte angefangen als Kurmaia-san.
Selbstverständlch hatte Kinza, der Lackierer war,
und einen kleinen Laden voll von wunderbarsten
Sachen hatte, ihm den Wagen kaufen müssen.
Und in ein paar Monaten ging es Riuge sehr gut.
Jeden Tag hielt er, lässig hängend zwischen den
Deichseln seiner Kurmaia, vor dem Bahnhof in
Tokio. Er quatschte mit den KoIIegen und nahm
es auch nicht übel, wenn sie ihm ab und zu einen
Kunden wegnahmen. Es war angenehmer, still
zu stehen als zu laufen. Und er erfand das
System, daß die KoIIegen ihm ein kleines Trink-

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