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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 21/22 (Erstes und zweites Februarheft 1915)
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Knoblauch, Adolf: Die schwarze Fahne [2]: Eine Dichtung
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Walden, Herwarth: Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0149

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zäunten Waidgrundstücken unauihörlich Aeste,
ganze Wipfei niederbrechen und den hohen weißen
Boden bedecken wie die Leichen verendeten Wii-
des. Fn den iäudiichen Straßen des Ortes gibt es
vieie schieie und gebrochene Teiegrafenstangen,
deren Brähte dem Schnee wichen und nur an ein-
zeinen Fäden das verstrickte Qewicht der zerrisse-
nen und zu Boden gestreckten Drähte schieppen.
Der Schnee ist überali die Bürgersteige entiang zu
unübersteigiichen Wäiien aufgeschichtet, die enge
Fahrstraße zwischen ihnen ist von den Fuhrwerken
durchfurcht.

Herr Assessor humpeit iangsam, das geknickte
Bein, das bei einer Kaiserjagd durchiöchert wurde,
nach der Seite aussteüend, zu Bran in die Stube
und steiit sich nahe vor ihm auf. Der sonst biü-
hende aite Herr hat heute ein so graues Qesicht,
der rasierte viereckige Schäde! ragt nacktgrimmig,
der wciße Schnauzbart überhängt wirr das breite
schwere Kinn, kait und biau biickt er auf Bran
durch die geschiiffenen Qiäser.

Betont geschäftiich, damit die freundiiche und
humoristische Verbindiichkeit ihres gewöhnlichen
Qespräches abgeschnitten wird, erkiärt Herr As-
sessor, daß Brans Brief an die bedauernswerte
Frau Lise schon in seinen Händen sei, er hätte ihn
dem Briefträger abgejagt „notabene gegen ein
Trinkgeid."

„Danken Sie Qott, daß ich den Brief habe, so
ist wenigstens das schiimmste verhütet. Und wagen
Sie noch ein einziges Wort an die gnädige Frau zu
schidken. dann passiert Ihnen etwas." Er sei immer
dazu gut, anderen Leuten die Kastanien aus dem
Feuer zu hoien. Soviei sage er aber, daß der eiende
Wisch (anders könne er Brans Brief nicht bezeich-
nen!) sicher in seiner „Brieftasche" ruhe (er legt
die Hand auf die Brusttasche) und er ihn eigen-
händig der Frau Brosin überreichen werde. Dar-
auf beendet Herr Assessor seinen Spruch an den
jungen Mann, (zur Bestätigung seiner eigenen
Ueberlegenheit) dergestait, daß er durchaus nicht
neugierig auf den Inhalt sei, aber gieichwohl sich
sein Teii dazu reime. Ob er darin über die Un-
sterbhchkeit der Maikäfer („der Mai ist gekommen
die Bäume schiagen aus") oder über die Unsterb-
iichkeit der Liebe phiiosophiere, soiie ihm ganz
gieichgüitig sein; daß er aber mit diesem Produkt
seines Qeistes baid eine Famiiie ins Ungiück ge-
bracht habe, werde nur durch sein Eingreifen ver-
hindert. Bran sei einer von diesen unverantwort-
iichen Inteitektueiien, (von denen er iängst die
Nase voü habe) die sich für erieuchtet und über die
gewöhniiche Menge erhaben dünken und dabei für
sich im Trtiben zu fischen pfiegen. Daß es ein Lie-
besbrief ist, sei seibstverständiich, aber er soile
ihn doch mai anvertrauen, was ihn dazu gebracht
habe, einer verheirateten Frau, die einer höheren
Qeseüschaftskiasse angehöre, eine Liebeserkiärung
zu machen, und um die handelt es sich doch?
Eineriei, sie hat einen Mann, der freiiich gegen
Bran wehrios sei; Vermögen, Kinder könne sie ein-
büßen, den moraiischen Kuf veriieren, eineriei „Sie
iieben die Frau und Sie glauben, sie ungestraft da-
durch beieidigen zu dürfen, daß Sie sie zum Ehe-
bruch verieiten!"

Bran unterbricht ihn und erkiärt ihm freundiich,
daß es Augenblicke im Leben eines Menschen gebe,
die nnseren Beistand unter aüen Umständen for-
dern. Obgieich Brans Kehie zugedrückt vor Ekei
ist, überwindet er sich, Herrn Assessor umständ-
iich darzuiegen, daß er noch in der Stunde vorher
nicht mit einem Gedanken an einen mögiichen
Brief für Frau Lise gedacht habe, das sei ganz un-
vermutet gekommen, im Augenbiick der Not. In
soicher Bedrängnis, wie sie Fau Lise durchgemacht
habe, stehe man einander eben iiebevoü und auf-

richtig mit Rat zur Seite. Der Kubus iächeit spöt-

tisch.

* * *

Frau Lise kommt am Mittag vom Sanatorium,
Herr Assessor bringt ihr den Brief, aber sie nimmt
ihn nicht an und schickt ihn ungeöffnet an Bran.

Herr Assessor stattet die Rtickgabe biumig aus
und erkiärt Bran, daß Frau Lise sich für den Brief
bedanke. Da sie es aber nicht anständig finde, daß
ein fremder Mann mit ihr ohne weiteres über ge-
schiechtiiche Dinge korrespondiere, so iasse sie bit-
ten, den Brief zu verbrennen. „Verbrennen Sie ihn
sogieich vor meinen Augen", veriaugt Herr Asses-
sor und öffnet die Kiappe des kieinen eisernen
Ofens, der Brans Zimmer wärmt. Bran erwidert
geiassen, daß er das gewiß nicht tue. Und indem er
ein Komodenfach aufzieht, geschwind den Brief
hineiniegt und zuschließt, fügt er hinzu, daß der
Brief doch in niemandes Hände weiter käme, wenn
er ihn seibst aufhebe, außerdem braucht er den
Brief für seine schriftsteüerische Arbeit.

Herr Assessor veriäßt ohne Weiteres die Stube,
ais habe er einen Stoß in den Piicken eThaiten.

* * *

Bran hört bei Frau Lise die harte kaite Stimme
des Assessors sprechen, er tritt hinaus auf den
Flur, klopft drüben an und als Herr Assessor auf
Spaitenbreite auftut, fragt Bran, ob Frau Lise mit
ihm seibst sprechen woüe. Nach einem Augenbiick
Schweigen dankt sie höflich mit ihrer nachdenklich
innigen aber geknickten Stimme, sie wünsche
nichts von ihm, woüe ihn auch nicht sehen, ein an-
der Mal.

Hortsetzung fotgt

Theater

Das Theater ist voüständig Museum geworden.
Sogenannte Kunstgeschichte. Unsere Museen sind
sämtiich Antiquitätenhandiungen, aus denen ieider
nichts an die Qebildeten aüer Stände verkauft wird.
Wer Zeit und Lust zum Herumsuchen hat, findet
sicher das eine oder andere Kunstwerk. Aber nicht
jeder schiuckt gern Staub, auch wenn er uoch so
historisch geworden ist. Kein Museum zeigt das
Ewige. Nicht die Künster ailer Zeiten und aiier
Länder reichen sich über die verschiede-
nen vergangenen Jabrhunderte die Hände.
Es wird nur nachgewiesen, daß von jedem Künst-
ier hunderte sogenannter Ktinstier ieben. Wenn
schon das Leben Stückwerk ist, braucht es die
Kunst nicht zu sein. Was nicht ieben kann soü ster-
ben, und wenn etwas ewig aufgehängt bieibt, wird
es durch die Dauer auch nicht iebendig.

Das Theater ist voüständig Museum geworden.
Wenn man iange herumsucht, findet man das eine
oder andere Kunstwerk aus vergangenen Tagen.
Wie es bei Antiquitäten seiten anders zu erwarten
ist, ieicht beschädigt. Die Spieüeiter bilden sich
ein, dem Beschauer die Einbiidungskraft ersetzen
zu können, die dem Beschauer weniger fehit ais
den Spieüeitern, die weder wissen, was ein Biid
noch was Spiei ist. Sie woüen die Qestaiten des
Dramas vermenschiichen. Sie bringen aiie Dichter
unter ihren Kuppeihorizont, an dessen Endiichkeit
und Sichtbarkeit man sich stößt. Ihr Horizont ist
unverrückbar, festgemauert in dem Boden. Die
Dichter stehen außerhaib und können die Bühne
nicht mehr betreten. Der leere Raum auf der
Bühne wird durch Dekorationen und Requisiten
ausgefüüt. Nach oben und nach den Seiten kann

sictt die Kunst nicht ausdehmen, sie kanh nur in die
reichiich vorhandenen Versenkungen abgeführt
werden. Aües wird auf der Btihne verdreht, natür-
lich innerhaib des Horizontes, aber Dekorationen
werden nicht schwindiig. Das Theäter zeigt schöne
Biider, aber iebende Biider leben nicht. Seibst nicht
mit Hiife von Akademieprofessoren (für Uneinge-
weihte: darunter sind Maier zu verstehen) und Se-
zessionisten.

Die Bertiner sammein sich in zwei Theatem,
die weder Kosten noch Mtihe schenen. Qespielt
wird nicht, das ist nichts für ernste Menschen, aber
ausgestattet, ff ausgestattet. Die beiden beiiebten
Ausstatter heißen Max Peinhardt. Professor, und
Pichard Schuitz, kein Professor. Der Professor des
Deutschen Theaters ist kiassisch, der Direktor der
Metropoie heiter veraniagt. Reinhardt ist farbig
und geschmackvoü, Schuitz bunt und geschmack-
ios. Beide machen Ausstattung, Peinhardt auf
Kosten der Kunst, Schuitz zum Verdienst der
Herren Hugo Baruch & Co. Beidc Herren
verfiigen iiber je zwei, drei Schauspieler,
die Schauspieier sind, der Rest ist ieider
nicht Schweigen, sondern Sprecheu: und Hop-
sen. Reinhardt iäßt seine Statisten getrennt,
Schultz die seinen vereint marschieren, aber Schla-
ger kommen auf jeden Faü heraus. Die Musik in
beiden Theatern ist gleich schiecht, bei Reinhardt,
entsprechend der Würde, kiassisch, aber von einem
Operettenkomponisten aufgefrischt, bei Schuitz di-
rekt vom Operettenkomponisten mit kiassischen
Einiagen.

Es fehit das expressionistische Theater. Was der
Impressionismus ieisten konnte, wurde von Otto
Brahm gezeigt. Was nach ihm kam, ist Epigonen-
tum. Entsteht heute eine Wirkung auf der Bühne,
so ist sie Qianz oder Abgianz des aiten Lessing-
Theaters. Hierzu gehört die Aufführung von „Wet-
terieuchten" (Strindberg) in den Kammerspieien und
vom „VoLksfeind" (Lessing-I'heater unter neuer
Leitung). Der Glanz ging aus von Albert B a s s e r-
m a n n. Aües um ihn herum perspektivisch geord-
net.

Es fehit das Theater unserer Zeit Die Dichter
sind da, vieüeicht auch die Schanspieler, es gibt fiir
sie keine Qeiegenheit, mehr ats impressionistisch zu
sein. Aber der Erreger fehit, der uns von der Lang-
weiie der Nacimhmung befreit.

Unter den Schauspieiern ist eine Künstierin zu
nennen: Maria O r s k a. Sie spieite im Theater der
Königgrätzerstraße die Königin Christine und im
Rausch von Strindberg. (Dieses Drama übrigens
nennt der Dichter „Verbrechen und Verbrechen",
der Uebersetzer fand wahrscheiniich Rausch poe-
tischer und ernüchterte dadurch den Sinn des Wer-
kes.) Der Verein Beriiner Theaterkritiker fand na-
türiich Irene Triesch besser, weii Frau Tiesch näm-
iich über Strindberg nachgedacht hat, sogar neuer-
dings in echtesten Feuiüetons für den Dichter ein-
trat (Frau Triesch tritt ftir Strindberg ein) und
weii Frau Triesch doziert, wähend Maria Orska
spieit. Aber Spiel ist nichts für ernste Leute. Und
Schauspieier, die sagar richtig dichten, vertreten
cinc höhere Stufe der Biidung, wenn die Stufen
dieser Damen und Herren aueh schon recht ver-
treten sind. Denn Dichten tun wir aüe gerne. Doch
Verstand muß es haben. Und was der Verstand
der Verständigen nicht sieht, das ist die Kunst.
Aber darüber kann man sich keine Qedanken
machen.

Berichtigung

im Gedtcht „Kranz der Heimat" (Nummer I9f20 ist im
Abschnttt „Das Erwachen auf der zweiten Verszeile anstatt
der Kranke zu lesen: der Knabe.

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