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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 6 (Zweites Juniheft 1914)
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Blüher, Hans: Zur Kritik des Sexualbegriffs
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0051

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die Erschütterung, die er dabei ertebte, war eine
sexuai-soziaie Bednrftigkeit des Menschen, die er
nicht hat befriedigen können. Auch in dem Ver-
häitnis, das größere Geister zum Begriffe der
„Menschheit" wie zu dieser seibst haben, kann man
'Anaiogien zu der VerJiebtheit in einzeine finden:
sie schmoüen und zürnen mit ihr, hassen sie, und
sind im nächsten Augenbiicke entzückt und zärt-
iich, dann wieder tief ergriffen. Auch die krank-
soziai-sexueiies Ereignis verstehen, das natüriich
haft gewordene Menschenscheu kann man a!s ein
immer speziai-sexueii bedingt ist, nur negativ ge-
wendet, etwa wie man die Zahien 1, 2 usw. ais
„Größen" definiert. Verstreut wohnende Farmer-
famiiien solien ieicht mürrisch werden; und ähn-
iiche Beiege iassen sich für die soziai-sexueiie Ver-
aniagung des Menschen anführen.

Unverkennbar und immer bedeutungsvoiier
wird die sexueiie Motivierung bei den Gefiihien:
Sympathie und Liebe, bis sie beim Be-
gehren die Herrschaft über alie anderen gewonnen
hat; es liegt hier eine Stufenordnung vor. Bei
dem noch sehr ailgemein gefaßten Sympathie-
gefühie wird es uns nur seiten kiar, daß hier eine
sexueiie Note mitspieit, aber der Duft, die Laune,
der Geist gewisser Menschen bereitet uns Wohi-
behagen; es kann hier noch ein Kreis von Per-
sonen sein, und die sexueiien Personen werden
durch ihn abgeieitet, nachdem sie heimiich erregt
worden sind. Ein bestimmter Rhythmus des Ver-
kehres mit sympathischen Menschen vermag
sexueii zu entiasten und zu beruhigen. Bei dem
Phänomen Liebe schreitet die Geschiechtskraft
dann schneii vor, wirft sich auf eine bestimmte
Person, ringt eine Zeit iang mit der aufkeimenden
Begierde, um im Faiie der Bejahung schneü dem
Zieie zuzueiien, in dem das Sexueüe dann unver-
hüiit hervortritt und deutiiche organische Akte
veraniaßt.

ich möchte hier besonders für unser Thema
darauf hinweisen, daß der Weg von der Liebe zur
Begierde durchaus nicht immer so kurz zu sein
braucht, wie man gewöhniich annimmt, ja, daß
er in gar nicht seitenen Fäiien genau so fehit, wie
der von der Sympathie oder der gewöhnlichen An-
ziehung zur Begierde. Es ist nicht gerechtfertigt,
aus der überwiegenden Häufigkeit der Fälle, in
denen Liebe und Begierde Hand in Hand gehen
und man zwieifelhaft sein kann, worauf der Haupt-
ton liegt, eine Gesetzmäßigkeit für alle abzuleiten,
und die Erfahrung zeigt, daß die Liebe sich auch
zu einem ganz selbständigen Gefühl ausbilden
kann, das keinerlei Nutzanwendung auf die Be-
gierde bedarf. Dies ist auch theoretisch völlig
klar, denn es ist nicht einzusehen, warum der
sexueile Trieb, der so viele in sich abgeschlos-
sene Bildungen hervorbringt, gerade hier eine An-
Ieihe zu machen gezwungen sein soll. Auch Men-
schen, die sonst im sexuellen Verkehr mit einander
stehen, erleben häufig Augenblicke, in denen sie
'das Gefühl der Liebe zu einander haben und die
doch keineswegs in Begierde nmzuschlagen
braucht, sondern mühelos wieder vergeht, bis sich
bei einem anderen Anlaß wieder ein neues Ge-
fühlsgebilde zwischen ihnen auftut, das anders kon-
struiert ist, das den Charakter eines Vorspieles
trägt und nach kurzer Zeit seine Höhe im wollüsti-
gen Ueberschwang zu suchen genötigt wird. Das
sind aber zwei selbständig nebeneinander beste-
hende Komplexe, die man nicht in eine notwendige
Abhängigkeit von einander bringen darf, ohne das
Verständnis von der Liebe zu trüben; dagegen sind
sie selbstverständlich beide durch die Sexualität
bedingt, sind Sexualität. Der hochgebildete Kultur-
mensch wird dafür Sorge tragen, alle Aeußerun-
gen des Sexualtriebes zu berücksichtigen und wo
die eine Selbständigkeit verlangt, sie nicht unter

die andere zwingen, sei es, daß er dies durch Ver-
drängung erreicht, sei es, daß diese durch die be-
sonderen Umstände nicht nötig wird. Denn genau
so, wie im Leben zweier Menschen, die sonst auch
der Begierde aufeinander ergeben sind, selbstän-
dige Liebesaugenblicke vorkommen könjnen, für
die ein libidinöser Plan Stilverfall bedeuten würde,
genau so kann das Verhältnis zweier Menschen
tiberhaupt nur auf dem Boden der Liebe ruhen.
So glauben wir mit Recht an die Liehe der M a -
dame de Guyon zum Abbe Fenelon,
ebenso wie an die Christi zu Johannes und brau-
chen die erzwungenen Erklärungen nicht, die
solche Vorgänge auf dem Umwege der Begierde
verstehen wollen. Ebenso ist natürlich auch die
Auffassung des Christentums falsch, das hier my-
stische und metaphysische Begründungen sucht;
es handelt sich vielmehr immer und lediglich um
Spielarten ein und desselben sexuellen Triebes.

Eine so weit gehende Definition des Sexualitäts-
begriffes muß man anwenden, wenn man einer
Teilerscheinung nahe kommen wiM. Nimmt man
die populär-scholatische Auffassung, wonach die
Sexualität nur ein Erregungszustand zwischen
Mann und Weib zum Zwecke der Kindererzeugung
sein soll, so macht man allenthalben die Erfahrung,
daß etwas inkongruent wird, es deckt sich nichts,
das einzelne Problem fließt iiber den Rand fort
und zerrinnt. Ganz und gar versagt eine solche
Methode, wo es sich nicht nur um wissenschaft-
liche Erkenntnis, sondern um praktische Kultur-
fragen handelt. Wer hier die Definition des Stamm-
begriffes nicht weit genug faßt, der wird schon bei
den ersten Schritten genötigt sein, mit Pathologie
und Kriminalität zu arbeiten, kommt zu den ge-
wagtesten Auslesungen geschichtlicher Vorgänge,
aber gewiß zu keiner besonnenen Konstruktion.

Für unser Thema muß also wichtig hier be-
merkt werden, daß die Wahl des Geschlechts-Ob-
jektes in allen Stufen der Annäherung von ge-
wöhnlicher Anziehung bis zur Begierde, durchaus
nicht an das andere Geschlecht gebunden
ist, wie sehr es auch bei den intensiveren Gefühls-
komplexen (von Liebe bis Begierde) den Anschein
hat. Ebensowenig darf man darauf hinausgehen
wollen, die in den beiden letzten Fällen gelegent-
lich — unter Tausenden kaum einmal — erfolgte
Fortpflanzung zum Zweck und Sinn, und damit
schließlich gar zur Rechtfertigung der Sexualität
zu erheben, wodurch dann alle anderen Resultate
eine auffällige Wertverkürzung erleiden. Der Zahl
nach am häufigsten nimmt die Sexualität allerdings
den Weg über die Liebe zur Begierde bei ver-
schiedenem Geschlecht: der Mann wird von der
Art eines Weibes gepackt, das er sich aus der übri-
gen Menschengesellschaft herausholt und dieser
Affekt entschließt sich dann rasch zum Begehren.
Dagegen wendet er sich auch in gar nicht seltenen
Fällen mit Liebe von Mann zu Mann, gewöhnlich
vom älteren zum jüngeren, oder anders ausge-
drückt: die Freundschaft zwischen Ge-
schlechtsgleichen bekommt einen
e rotischen Ton, der ins Bewußtsein
t r i 11, und der sich auch mitunter bis zur Be-
gierde steigert. Hier begann für die ältere ,Medi-
zin die Pathologie, wie für die ältere Juristik die
Kriminalität, ohne daß in dem natürlichen Ver-
halten irgend ein Grund für eines von beiden ge-
geben wäre. Die gleichgeschlechtliche Zuneigung
widerspricht durchaus nicht der sonstigen sexu-
ellen Anlage des Menschen. Es liegt hier lediglich
ein Verstoß gegen die Gepflogenheiten der Majo-
rität vor.

Die Griechen, denen ein besonderes Verständnis
für die Triebtatsachen eigen war, haben auch diesen
Naturvorgang richtig begriffen. Sie verstanden den
erotischen Unterton der Freundschaft und wiesen

ihr einen Platz in ihrer Kultur an. Das Griechen-
problem ist mit dem der gleichgeschlechtlichen
Liebe aufs engste verwachsen. Es war ein kiuges
Hinnehmen der Naturvorgänge, der Freundschaft
den erotischen Charakter da, wo er sich unverhüHt
zeigte, nicht zu nehmen, und die einmal nicht fort-
zuleugnende Triebrichtung kultureh zu verwen-
den. Daß bei ihrer Uebertonung die Frauenliebe
litt und nicht recht zur Entfaltung kam, ist ein
Nachteil, der nur historisch bedingt ist. Das Weib
war damals noch nicht entdeckt, man hielt es nach
orientalischer Art gefangen und bestimmte es meist
nur zur Befriedigung gröberer sexueller Begierden
und zur Kindererzeugung. Für den antik-orienta-
lischen Wertgeschmack wäre es zum Beispiel un-
möglich gewesen, sich vierhundert Jahre hindurch
über das geheimnisvolle Lächein einer Mona Lisa
zu streiten. Wenn man in diesem allerdings un-
harmonischen und unvollkommenen Liebesleben
der Griechen eine besondere Barbarei sehen wiH,
so darf man dies jedoch keinesfalls vom Stand-
punkte der bisher gültigen Sexualmoral der Oef-
fentlichkeit tun, denn diese ist nicht minder bar-
barisch. Sie billigt dem Weibe einen Vorzug zu,
der es durchaus nicht ehrt und dessen Ueber-
betonung bei weitem nicht die kulturellen Werte zu
schaffen imstande ist, wie die entsprechende der
Griechen, während andererseits die gleichge-
schlechtliche Liebe einer völlig ungerechtfertigten
Verpönung anheim gefallen ist, die sie nicht selten
in die Form der Lasterhaftigkeit preßt; und diese
kommt ihr an sich ebenso wenig zu als der nor-
malen. ,

Dem Kulturleben der Griechen iag die Ab-
vdckelung eines sexuellen Prozesses von ganz be-
sonderer Färbung zu Grunde. Dieses Beispiel
steht einzig da und verdient die größte Beachtung.
Darum ist nicht gesagt, daß es der Nachahmung
wert ist. Diese Art Liebesleben war an diesen
Volkscharakter gebunden und es ist selbstver-
ständiich, daß andere Typen der Menschenrasse
auch andere Stimmungen der Liebe dem Manae
wie dem Weibe gegenüber schaffen. Ich wies nur
auf die Griechen hin, um die Parallel-Lage in der
Wandervogelbewegung deutlich zu machen. Auch
sie beruht auf Grundlagen, die den Antiken wesens-
gleich sind, wenn es auch in ihr naturgemäß zn
ganz anderen Zielen kam und fast durchweg nur
hingenommen und erlebt wurde, was man bei de<
Griechen verstand und kultivierte.

Empfohlene Bücher

Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hi-e<r
genannten Biicher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhaiten hier nicht erwähnte
Bticher zurück, faiis Riickporto beigefiigt wurde.

Daniel Halevy

Ouelques Nouveaux Maitres: Romain RoHand /
Suares /' Paul Claudel / Charles Peguy
Les Cahiers du Centre / Moulins (AHier)

Paul Scheerbart

Lesabendio /' Ein Asteroiden-Roman
München / Verlag Georg MüIIer
Glasarchitektur /' Programm der Glasarchitektur
in einhundertundelf Kapiteln
Berlin / Verlag Der Sturm

August Stramm

Sancta Susanna
Berlin / Verlag Der Sturm

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