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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 7 (Erstes Juliheft 1914)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht [13]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0058

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HandHächen nieder, hatte von neuem eine Empiin-
dung, ais werde sein Herz heulend aus dem Sack
der Lungen herausgerissen, Nerven, Muskehi zer-
fetzt —:

Hiife!

Nirnm es von mir!

Es tut so entsetziich weh! . . .

Wahnsinnig versuchte er einen Schrei zu er-
sticken, zerrte an seinem Kragen, riß die Knopf-
löcher der Weste auf, schiug sich mit geballten
Fäusten vor die Stirn, Hiife, jetzt wieder, eine
glühende Säge, mein Herz, ich will nicht mehr!

Er vernahm auf einmal das Geräusch eines lang-
gezogenen Stöhnens, röchelte vor Angst und Qual,
fühlte, daß es nun wieder kam, Hilfe, ich verbrenne

bei iebendigem Leibe.und dann war es alles

weg und zu Ende, ia — Gott sei Dank! nein . . .
riihr mich nicht an, dann kommt es gleich wie-
der . . . Ach Gott, sei gepriesen, es ist vorbei, es
ist ganz vorbei, nun kommt es nicht wieder zu-
riick! ....

Er Iachte mit dunkelndem Blick, zitternden
Lippen, ermattet bis ins Innerste — noch immer
auf allen vieren dort liegend; auf zitternden,
schweißfeuchten Händen und auf schmerzenden
Knien, der Kopf bleischwer zwischen den beben-
ddn Armen herabhängend.

Aber einen Augenblick später w'ard er unver-
mutet von einem eiskalten Schamgefiihl getroffen,
fand es unbegreiflich, daß er sich auf diese Weise
so hatte übermannen lassen, lächerlich, hysterisch!

Er erhob sich mit Mühe, stand schließlich auf
beiden Füßen, noch mit einem ganz schwachen
Stechen tief da drinnen — mit kurzem, keuchen-
dem Atem. Dachte im selben Nu an Annie — und
an alles, was sie hatte leiden müssen!

Er schob es mit beiden Händen von sich, är-
gerte sich gleich darauf über diese Schwäche,
starrte wild um sich her, mit beständig halb zu-
sammengepreßter Kehle — tat schwankend ein
paar Schritte vorwärts, und glitt langsam in den
großen, roten Stuhl nieder, auf dem der Professor
vorhin gesessen hatte.

Es tat ihm gut, zu sitzen.

Behutsam streckte er beide Beine lang vor sich
aus, Iieß den Nacken leise hintenüber sinken.

Mit einer rätselhaften Süßigkeit erinnerte er
sich gleich darauf, wie weh es getan hatte. Eine
Sekunde war es ihtn, als sei das alles zusammen
mystisch um Annies willen geschehen — aber im
selben Augenblick ekelte ihn heftig bei dem Ge-
danken, er fand ihn häßlich, sentimental und lügen-
haft — und vor allem gemein darauf berechnet, ihn
selbst anzuführen, ihn dazu zu bringen, das Ent-
setzliche, das Namenlose, was sie hatte leiden müs-
sen, zu vergessen!

Nein, dachte er heftig — und was war übrigens
trotzdem das, was er jetzt hier erlebt, im Vergleich
bloß zu dem, was er in jenen ersten zwölf Stunden
empfunden hatte — oder vielmehr, schon von dem
Moment selber an, an jenem Abend, wo er an die
Eisenbahnstation telephoniert und dort erfahren
hatte, daß . . .

Er machte eine gewaltsame Bewegung mit bei-
den Händen, wollte sich nicht hieran erinnern,
wollte die Kraft haben, es zu verscheuchen — so
wie in früheren Zeiten, so wie er es wieder und
wieder im Laufe dieser zwei langen, langen Jahre
vermocht hatte — in diesen zweimal dreihundert-
undfünfundsechzig grenzenlosen Nächten!

Nicht wahr —: sehr möglich, daß seine
Kräfte allmählich im Begriff waren, zu versagen!
sehr möglich, daß er heute aus unerklärlichen
Gründen und Grundesgründen verwerflich sein
Benehmen geändert, sich restlos anders benommen

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hatte, nach jeder Richtung hin, als bisher! sehr
möglich! jawohl — und er hatte ja auch versucht,
eine Andeutung von Berechtigung dazu oder eine
Entschuldigung dafür in der Tatsache zu finden,
daß das Manuskript, dies letzte und äußerste Manu-
skript, dort lag und fertig war!

Er war also tatsächlich mit seinem Werk zu
Ende gelangt, hatte in dem Buch dort das Tiefste
und Höchste niedergeschrieben, was er vermochte

— hatte nicht das geringste mehr hinzuzufügen!

Und ergo hatte er jetzt wohl ein klein wenig

Pecht dazu . . .

Aber von neuem bestrebte er sich, diese Vor-
stellungen mit Energie zu verscheuchen, sah deut-
lich ein, wie folgeschwer, wie gefährlich es war,
nachzugeben — suchte auch sich selbst in Zorn
zuzureden wegen der Gedanken, die da eben durch
sein Gehirn geflogen waren —:

Unsinn!

Prahlerei von Alpha bis Omega!

Kein Künstler konnte jemals in seinem vierzig-
sten Jahre kommen und sagen, daß er nun sein
letztes Wort geschrieben habe! Niemals!

Wenn ihm einmal das Leben diese Gaben ge-
schenkt, ihm ohne zu zählen vierzig große Jahre
des Strebens, des Könnens, des Glückes verliehen
hatte — ihm alles, was sich Gutes denken ließ, ge-
gönnt hatte, alles, weswegen die Menge sich tag-
täglich von Morgens bis Abend ein ganzes, langes,
langes Leben hindurch abmüht und plagt, um nur
einen winzig kleinen Bruchteil davon zu er-
reichen . . . dann fehlte es auch noch gerade, daß
er nachgab!

Nein, wahrlich, noch waren keineswegs seine
Schulden bezahlt — seine ungeheuren Ehrenschul-
den an sie alle, an Sie, an das Leben selbst! Sicher-
lich nicht —: alles das, was von jenem Abend
stammte, alles das, was offenbar und ver-
borgen an jenem Abend vor zwei Jahren begonnen
hatte, während er dort unten an der Straßenbahn
ging und vergebens auf sie wartete —: bei alledem
zu verweilen hate er nicht das Recht! es war vor-
bei, es war fertig und abgeschlossen, es war für
immer hinter Schloß und Riegel gesetzt . . . so wie

— ja, gerade so wie der Urheber zu dem gänzen,
so wie Karl Mumme selbst —: es war seine ein-
fache Pflicht, das alles zu vergessen! . . .

Doch, trotzdem fuhren seine Gedanken fort,
wieder und wieder zu diesem einen Punkt zurück-
zukehren.

Er ertappte sich plötzlich dabei, daß er den
Versuch machte, sich selbst zu beweisen — daß
es ihm in Wirklichkeit gut tun würde, es würde
ihn ja gerade außerordentlich stärken und trösten,
wenn er von neuem diese Stunden von damals
wieder erleben könnte!

Und nicht genug damit —: aber war es nicht
eine Untreue gegen Annie, eine Wortbriichigkeit,
ein wiederholtes Sieverlassen, ein neues und noch
feigeres Sieimstichlassen — daß er so unmännlich
vor diesen Vorstellungen zurückwich!? . . .

Angstumfangen erhob er sich schließlich mit
einem Ruck, wollte fort von hier, ins Bett hinauf,
hinaus und spazieren gehen, wieder hinab in den
Garten, fort, gleichgültig wohin, nur fort, so schnell
wie möglich fort von hier, sogleich weg — da
aber fiel sein Blick auf einmal auf den Brief, der
dort mitten auf der Platte des großen Tisches lag,
auf den länglichen, bfauen Brief mit dem Siegel
des Gerichts —:

Nun ja!

Karl Mumme!

In ganz wenigen Stunden sollten sie beide ein-
ander von Angesicht zu Angesicht gegenüber
stehen! . . .

Noch mehr cntnervt suchte er auch diesem Be-
wußtsein zu entfliehn, starrte einen Augenblick
entsetzt umher, tat einen Schritt auf den Tisch zu,
machte eine Handbewegung, um dies Stück Papier
zu zerreißen — streckte darauf seinen Arm aus,
wie um ein Buch zu ergreifen und zu tun, als lese
er, erhob darauf jäh beide Hände über seinem
Scheitel, stürzte vorwärts durch das Zimmer, auf

die Tür zu, wollte fort, hinaus, weg.und

da blieb er einen Moment stehen, die Finger um
den Türgriff geklammert, warf seinen Kopf zurück,
plötzlich in ein kurzes und röchelndes Lachen aus-
brechend —: Ja, ja, denn genau auf dieselbe Weise
w,ar er ja an jenem Abend durch das Zimmer ge-
stürrnt, mit diesen langen, beiden Sprüngen, die
ihn von der einen Seite des Schreibtisches — und
ganz bis an die Schwelle führten, wo er in diesem
Augenblick stand!

Gerade so, dachte er in schwindelnder Hast,
lehnte seine Schultern schwer gegen den Pahmen
der Tür und pr'eßte seine Hand gegen die
Augen —:

Gerade derselbe Sprung — wie damals!

An jenem meilenfernen und gegenwartnahen
Abend, den er nie vergessen konnte — und bei
dem er im innersten Innern seines Sinnes in jeder
Sekunde verweilte!

Nein, nicht das geringste von alledem war ver-
gessen, alles saß so tief in seinen sämtlichen Fi-
bern, zu gleicher Zeit seine Stärke und seine
Schwäche — bereit, jede Minute hervor zu kom-
me-n!

Ach ja, dieser gräßliche Abend vor zwei Jah-
ren —: Sommer wie jetzt, Nacht wie jetzt, die
Uhr ein wenig über eins. Er hatte dort gesessen
und viele, viele Stunden geschrieben. Annie war in
der Sfadt — bei ihrer Mutter, die nicht wohl war,
die krank lag, ernstlich krank.

Jener Abend . . . während er schrieb, sah er
hin und wieder nach seiner Uhr, die er vor sich
auf den Tisch gelegt hatte, um auf die Zeit acht
zu geben, wenn sie nach Hause kam. Erst mit
der letzten Straßenbahn von da drinnen, hatte sie
vor ein paär Stunden telephoniert; er hatte ge-
fragt, ob er nicht lieber in die Stadt kommen und
sie holen sollte — aber sie hatte nein geantwortet,
sie wußte ja ebenso gut wie er, daß diese Arbeit,
mit der er beschäftigt war, sehr eilte — und im
übrigen fuhr die Straßenbahn sozusagen von
Tür zu Tür!

Nun ja, er warf noch einen letzten Blick auf
die kleinen, schwarzen Zeiger .—: ja wohl, fünf
Minuten über, es wird am besten sein, wenn ich
jetzt gehe, in zwei Minuten ist der Wagen hier!

Er erhebt sich, nimmt Hut und Stock und geht
hinaus. Es ist warm, es ist sternenklar, es ist ein
wunderbares Wetter aus Sommer und aus einem
frischen kleinen Wind, der von da draußen vom
Wasser her streicht — und so fein in den Bäumen
des Weges saust. Er drückt den Hut fest auf den
Kopf, eilt, mit dem innersten Innern seiner Ge-
danken, noch bei dem Papier dort oben verwei-
lend — eifrig nach der Haltestelle da drüben rechts
hinüber!

Er hat reichlich Zeit, er vergiß't plötzlich sein
Buch, entsinnt sich lächelnd, daß jetzt endlich Annie
ankommt, sie ist viele Stunden fort gewesen —
und siehe, unten bei der Biegung schimmert schon
das rote und das weiße Licht in der Ferne!

Er geht auf die Fahrstraße hinaus, dicht bis an
den hohen, hellgrauen, eisernen Mast, der die
Drähte trägt.

Der Wagen nähert sich, Iärmend braust er vor-
wärts, sein Lichtschimmer fliegt über den Staub.
des Weges dahin, vorüber an den Büschen, die
 
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