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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 5.1914-1915

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Nummer 10/11 (Zweites Augustheft / Erstes Septemberheft 1914)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht [16]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.33880#0083

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dann hätte er dies eine Mai unerkiäriich geahnt,
was geschehen konnte! dann hätte sein Herz alies
erratend vorausgesehen, was geschehen mußte —
wenn er ihr diesen Abend eriaubte, aiiein hier her-
auszufahren! Dann wäre es ihm ergangcn, wie
es so vieien Müttern und Vätern ergangen war,
so vielen Liebenden auf dem ganzen Erdkreis —
däß ein geheimnisvoües Wissen sie rastios, ruhe-
ios, von daheim trieb, fort, hinaus — hinaus, um
vorzubeugen, was sonst unabwendbar geschehen
wiirde! Ja, ja, das aiies ist seine eigene Schuld,
das alies ist nur gerecht und natüriich, er hatte
sie nicht genug geiiebt . . . und nun ist es zu spät!
er hatte seine eigenen Piäne und Arbeiten höher
gesteiit ais Sie und dies ist die Strafe dafür . .
und nun kann es niemais, nie wieder gut gemacht
werden! . . .

Er birgt zermalmt sein Antiitz in den Händen,
bleibt da iiegen, ohne ein Qiied zu rühren.

Und die Minuten vergehen — sie kommen und
ve'rgehen.

Ein Sonnenstreif fäiit schmai und biank und
schaut durch das offene Fenster herein. das im
Winde schwankt.

Qiaß Morton erhebt auf einmai den Kopf, sieht
die Qardinen dort, die zerrissen sind ,es haftet
Biut daran — Biut auch auf dem Fensterbrett und
auf dem Fußboden — Biut iiberaii.

Ja überaii, über die seidene Decke des Bettes
haf es sich gebreitet, auf einem Purpuriaken iiegt
sie da — die Schönste von aiien, die ewig junge,
die zarte und lichte Fürstin der Weit und des
Lebens!

Er lacht giückselig und verzweifelt, erinnert
sich in einem biitzkurzen Nu aH ihres Glückes —
sinkt keuchend vornüber, schlägt sich die Stirn
blutig, ruft und murmelt! — Er entsinnt sich, wel-
che Qual sie erlitten hat, während dies alles über
Nacht geschehen ist ^ und erhebt sich halb mit
einem Ruck und schüttelt die Fäuste in der Luft
vor sich, will töten und zerschmettern! — Er er-
innert sich des allerersten Males in seinem Leben,
wo er sie sah — und er birgt sein Antlitz in beiden
Händen, schreit da drinnen, rast und keucht! —
Er unterscheidet piötzlich den Laut von Schritten
irgendwo da unten unter $ich, von beständigen,
langsamen, gleichsam patrouiliierenden Schritten
da unten durch die Zimmgr, einen nach dem an-i
d'ern: äuf und nieder, der Qang eines Wächters,.
äüf und nieder — und sein Herz schleudert einen
Strom von köchehdem' Biut in seine Wangen hin-
aüf: diese Köter, die da gehen und warten,, diese
Laurer, die da unten umherschleichen! — Im näch;
sten Augenblick' fälit ihrri jener erste Äbend nacii
dem Bail ein, den er bei ihren Eitern zubrachte ...
uhd'da steht er auf einmal aufgerichtet, wiid mit
schwankenden Khien da —:

Ja! / '''' . . . '

Die hat er vergessen!

Vergessen bis jetzt — ihre Eltern!

Was soii er tun, wenn sie jetzt . . . baid, viel-
leicht schon in diesem Moment . . . erfahren haben,
was geSchehen ist!

Er starrt ratlos nach aiien Seiten umher:. der
Schrank, der umgestürzt dort vor der Tür in der
Ecke liegt, die zerfetzteh. blutbefleckten Qardinen,.
die wehen! das Bett; seine Kleider — Sie!

Und da ist es, als erwache er jetzt fast ganz.
Er entsinnt sich jedes einzelnen kleinen Dinges,
in allem, was geschehen ist — und in allem, was
unvermeidlich foigen muß! Ja, ihr Vater und ihre
Mutter vor ällen Dingen . . . ihr Vater, der alt,
ihre Mutter, die krank ist! Mein Qott, wozu soll
er greifen! Was sol! er antworten — wenn nuri
binnen kurzem auch die beiden Alten hierher kom-
men und verlangen ihre Antiie zu sehen, äch, ihr

Lieblingskind, das letzte von ihnen allen, sie, die
so schön war, so licht, so froh und so gut — und
der Morton ein unvergängliches Qlück zu schenken
geschworen hatte!

Er ist von neuem an dem Rande des Bettes
niedergeglitten, eine einzige Sekunde noch zer-
rissen, aufgelöst, ertrunken in seiner Qual — aber
dann ist sie selbst es plötzlich wieder, die in seinen
Qedanken auftaucht —:

Sie!

Hat er auch sie vergessen?

Hat er sie unachtsam daliegen lassen, stunden-
lang?

Hat er sowohl sie — als auch die Eltern
vergessen, denen sie keinen Schmerz bereiten
wollte?! ...

Und da ist er jäh ganz wach, hat sich mit einem
Puck aufgerichtet —: ja, ja, meine Qeliebte, was
soll ich für dich tun?!

Er tritt im selben Augeblick einen kurzen
Schritt vor, hat sein Antlitz mit gerunzelten Brauen
erhoben, in seinem Herzen entsteht auf einmal ein
ungeheures Schwellen! er zittert, tief aus seinem
Blut fliegen wieder die kochenden, feuerroten
Dünste hervor — und jäh umklammern ihn schäu-
mende Begierde, wahnsinnig gehässige Qelüste —:

Ja! -

W a s soll er tun — um ihr Los zu mildern?!

AHes, gleichgültig was, zu allem, was es auch
sein mag — ist er bereit, um seine Schuld zu
sühnen!

SoII er gleich hier an ihrer Seite sterben — zur
Strafe, weil dies hier geschehen ist! SoII er nie-
derknien und sich mit einem Schuß in den Schädel
töten, sein Leben nach ällen Seiten verspritzen, rot
und grau — reuevoll und sehnsuchbesessen zu Ihr
hinüberstarrend! Oder soll er mit einem Sprung
oben im Bette sein, sich in der Ecke da oben an
seinem Hals aufknüpfen, krepieren wie der Unwür-
dige, der er ist — während er röchelnd und selig
ihren Namen in einem Flehen flüstert! Oder nein,*
das alles ist ja gar nichts, das ist ja nur Woliust im'
Vergleich mit dem, was sie hat leiden rhüssen
nein, aber soll er denn sein Taschenmesser heraus-
höleh, es öffnen ünd mit seiner stumpfen Klinge
seinen Leib in derselben gräßlichen Wunde auf-
schlitzen, die ihm sie geraubt hat — mit fester und
langsamer Hand, Stück für Stück, seine Eingeweide
herausreißen, sie in einem Schwall von Blut von
sich schleudern — und sterben mit einem Schau-
dern von Wonne, daß er sogleich ihrer Fußspür
hatfolgenkönnen?!

Was?

SoIIer?

Wird sie das froh machen — und wird es
seine eigene Schande gut machen können?

Oder sind es vielleicht die anderen, die ge-
troffen werden sollen? Die ganze unzählige, un-
bekannte Menge, in der er, der Fremde, der Mör-
der, $chon längst verschwunden und verborgen
ist?! Sage es mir, soll ich s i e totschlagen — um
ihre Leichen zu einem ungeheuren Monument auf-
zuhäufen, zu einer schwindelnden, sickernden Py-
ramide über deiner Leiche? SoII ich ihnen alien
mein Haus öffnen, an demselben Tage, an dem du
begraben wirst — soll ich im voraus die Keller
des Hauses mit Pulver und Dynamit füllen, soll ich
sie zu Tausenden hier hinauslocken und sie dann
älle zusammen in die Luft sprengen — so daß sie
in einem sukundenkurzen, himmelhohen Berg von
Feuer und Qeschrei, von Rauch und Tod um-
kommen?! Oder soll ich an jenem Tage zahllose,
lange Tische überall hier drinnen, in allen Stuben,
oben wie unten, in.den Qängen des Gartens, auf
den Pasenplätzen und dort unten am Strande ent-
lang, decken lassen — und im voraus ein schran-

kenloses Qift in sämtliche Flaschen und Qläser
gießen lassen! soll ich sie lächelnd mit einer ver-
heerenden Pestilenz bewirten, so daß jeder ein-
zelne von ihnen noch mehr leiden muß, als du,
Hunderte von Malen länger und Tausende von
Malen qualvoller als du . . . und dann selbst mitten
in dem heulenden Chaos von Todeskampfzucken
damit enden, mich selbst als den letzten von allen
zu morden, satt von der Rache, zum Bersten über-
sättigt von Pache, triumphierend und toll von
Sehnsucht — auf deinem Qrabe?!

Nicht wahr?

Wie gefällt dir das?!

Oder antworte mir, findest du mehr Behagen
an dem, was mir jetzt eben eingefalien ist —:

Hahaha, ein gigantischer Einfall, wohl wert des
Verlustes von dir —: höre jetzt hier einmal, soll
ich von nun an Tag und Nacht schreiben, jedes
Tüttelchen meiner Kräfte gebrauchen — um eine
vollkommen neue Art von Kunst zu dichten! Haha,
unendliche Bücher schreiben, Folianten, deren
Titel schon ein tiefer, ein unsichtbarer und giftiger
Stich in das Herz aller Welt ist; deren Fieberhand-
lung dem Leser die Kraft stehlen, das Mark aus
seinen Knochen trinken, jedes Körndhen seiper
Zufriedienheit und Ruhe seines Zutrauens zum Le-
ben ersticken soll; und deren Personen häßliche,
unvergeßliche Qesichter haben: große kreideweiße
Fratzen, die sich hin und her wiegen, glotzende
Augen, geifernde Münder — und verkrüppelte Or-
gane! Ja Qeschichten, die wie Ungeziefer über die
Türschwelle des Lesers dahergekrochen kommen,
die lautlos an allen Wänden in seinem Zimmer
hinaufkrabbeln, sich jäh als ein unfaßbarer, unver-
treibbarer Beigeschmack der Fäulnis in allen sei-
nen Speisen verraten sollen; sich als erstickender
Qestank von Typhus und Seuche offenbaren, der
aus all seinem Getränk aufsteigt! Haha, Schau-
spiele, die rufen und locken — und sich hinterher
wie eine Ansteckung in allen Sinnen festkleben,
den Schlaf des Zuschauers daheim verschleimen,
entzündet und unsägbar in seinen Träumen gau-
keln, seine Züge Nacht für Nacht erschlaffen und
verunzieren! Romane, die sein Fleisch zersetzen,
einen säureherben Eiter in alle verborgenen Wun-
den tropfen — Menschen dazu bringen, daß sie sich
nicht nur vor sich selber grauen, sondern auch vor
ihrer Frau, ihrem Mann, ihren Kindern und Elternü
Werke, die mit jedem Atemzug ihre Adern. mit
demselben stinkenden Morast von Blut und Mord
füllen, mit demselben wunden Haß gegen alle Welt
— wie sie in diesem Nu in m e i n e n Nerven rase'n!
Bücher, ja ,die befle'cken ünd schänden, die mit
Qewalt nehmen und meuchlings morden — gerade
so wie Ännie über Nachf getötet ünd besudelt
wofden ist! ...

Fortsefzung to!gt

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