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Heidelberger Tagblatt — 1859 (Juli bis Dezember)

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November
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https://doi.org/10.11588/diglit.2788#0513

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sich. Preis mitU»terhaltmrgsblatt viertel-
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Sonntag, 27. Novcmber

Zusertiousgebühren sür die Zspaltige Pe-
titzeile odev derenRaum werden mit Lkr.
berechuet.

18SS

England und Frankreich

Die Bcsorgnlsse Enqlands vor einer Zn-
vaston der Zuaven Napoleons lll. stnd
eincs der merkwürdigsten Spmptome dcr
Mßerordentlichen Laae, in welcher Europa
sich gcgenwärtig befindct. Monate lang
beschwichtigt, brcchen ste immer wieder her-
vor, mid immer in gestesgertem Maße.
Jedes Vierteljahr läßt die englische Presse
ihre laute, warnende Stimme hören, und
wie der Ruf des Wächtcrs auf dem Thurmc,
der den Feind immer näher und näher
kommen sieht, wird auch ihr Ruf immcr
dringender und beunruhigender. Es ist
dies in dem Augenblicke, wo'Frankreich
und England zum gemeinschaftlichen Kriege
gegcn China rüsten und die Politik des
britischen Reiches von Palmcrston, dcm
Vater' der anglo-französtschen Allianz gc-
leitet wird, gewiß cine außerordentliche
Erscheinung und wie man es in Paris zn
nehmen gesonnen ist, kann man dort stolz
daraus sein, dem mächtigen Nachbar solchc
Angst zu verursachcn, öder auch darauf,
eine Macht zu repräsentiren, die sich rüh-
men kann, ein bis jeßt in der Geschichte
unerhörtes Mißtrauen gegen stch wachge-
rnfen zu haben.

Wir,wir die Verhältniffc ansehcn, hal-
ten wir ciue französische Erpedition gegen
England nur in dem eincn Falle für wahr-
scheinlich, wenn die britische Politik ein-
mal wirklich Ernst machen und den fran-
zösischen Weltherrschafts-Bestrcbungen ent-
schieden in den Weg trcten solltc. Diese
ELentualität läßt stch nicht bcrechnen ; ste
kann sehr ferne, fle kann aber auch sehr
nahe scin. Die Rüstungen Frankreichs
und Englands gegen einandcr sind noch
nicht beendigt und das Maß von destruk-
tiver Gewalt, welches ste aufgchäuft haben
werdcn, wird im letzten, entscheidenden
Augenblicke bei der Politik der cinen, oder
der andern Macht dcn Ausschlag gcben.
Der Gegcnsatz ist vorhandcn; cs handelt
sich nur mehr um die Ursache des Kvn-
stikts, und wenn wir an dem Ausbruch
dieses ganz Europa in seine Wirbcl hin-
rcißenden Kampfes noch zweifeln, fo ist
rs, weil unserer Ansicht nach, es nicht
England, sondern das napoleonische Kaiser-
reich ist, welches eben alles dabei ein»
sest-

Die besten Garantien ;ur die Erhaltung
des Friedens gab bisher Lie diesseits wie

jenscits des Kanals herrschcnde Abnei'gung
gegcn den Krieg. Jn England will ihn
Niemand — weder die Nation noch die
Regierung — und in Frankreich hegt sicher-
lrch die große Mkhrhett noch jetzt die gleiche
Stimmung. Aber neben dieser Mchrheit,
die stch nur schwer vernehmbar machen
kann, eristirt eine Mindttheit, die vrelleicht
eben so sehr den Krieg wünscht, oder ihn
wenigstcns nicht ungern gcschehen läßt,
als jene ihn verabscheut, und in der stch
gerade diejenigen Elemente befiiidcn, die
auf die Entschlüffe des Kaisers bestimmend
einwirken können.

Dcr Krieg mit England würde in Frank-
reich sehr populär seill, und wäre er es
nicht, so könntc er leicht populär gemacht
werden. Ungeachtet der langcn Friedens-
jahre ist die altc Nationaleifersucht noch
nicht erloschen.

Daß die Armee Krieg wünscht, läßt stch
bcgreifen. Abgesehcn von irgend welchcr
desondern Stimmung gegen England, wird
sich ein wohlgenährtes, wohlgekleidctcs,
von Schmeicheleien berauschtes und nach
Avanccment dürstendes großcs Heer von
600 bis 700,000 MaNn nach Beschäftigung
sehncn. Aber es ist speziell dcr Krieg mit
England, auf den alle Welt, pom General
bi's zum Gemeinen Herab, erpicht ist.

Die allgemeine Stimmung aber ist enthu-
siastisch zu Gunstcn einer Jnvasion Eng-
lanvs, der Wiederaufnahme jenes Plans,
der unter dem ersten Kaiserrkich scheiterte
und von dem man hofft, daß er dem
zweiten Empire- bcffer gelingen werde.
Am 20. August wurde zu Versailles 6500
Mann der Kaisergaroe ein Festmahl ge-
geben. Nach dem Ende dcs Bankctts
wurde das Publikum zugelassen und durste
stch unter die Soldaten mischen. Einer
der Anwesenden macht stch an ei'nen Zuaven
mit einer gewaltigen Schmarre übers Ge-
sicht. Es ist kin Dcnkzcttel von Magcnta.
„Auf cine solche Wunde", bemcrkt der
Civilist, „kann man stolz sein und ste ent-
stelli Sie nicht, obgleich Sie das eine Auge
dabei verloren haben; abcr den Krieg
haben Sie doch wohl jetzt satt?" „Jch,
mein Herr? Wenn man uns in vier Mo-
naten, wie wir hoffen, nach England führt,
werde ich fordern, der erste zu seLn", war
die Antworc.

Die Nüchternern meinen übrigens doch,
vor 1861 könnte cin Krieg nicht gewagi
werden, da mindestens noch anberthalb

Zahre erforderlich scin würden, um die
Kohlenvorräthe zu vervollständigcn.

Die Geistlichkeit bleibt im Kriegseifer
hinter der Armee und Flotte nicht zurück.
Das Univers tobt wie ein Bcscffener gegen
England. Täglich bringt es die beleiöi-
gcndstcn Artikel. Es kann als das cchte
Organ des Klerus angesehen werden. Der
Kaiser steht wegen seiner revolukionären
Politik in Jtalien bci der französtschen
Geistlichkeit jetzt in keincm sonberlichen
guten Geruch; ein Krieg gegen England
würde ihm ihr Wohlwollen — und das
scheint er bis jetzt nicht entbehren zu kön-
nen — vollständig wieder vcrschaffen.

Auch die Legitimisten dürften, trptz ihrer
pri'nzipl'ellen Feindschaft gegen die kaiser-
liche Politik einen Krieg gcgen England
mit günstigen Augen ansehen. Sie hassen
den Kaiser, aber ste wünschen noch mehr
die Demüthl'gung Englands. Sic vcr-
danken England mehr als irgend eine
andere französtschc Partei und mehr als
irgend einer andern Nationz aber Dank-
barkeit ist selbst zwischen Zndividuen eine
schwere Tugcnd; die Zntereffen dcr Partei
überdauern die Erinnerung an die empfange-
nencn Wohlthaten, oder man empfindet
diese nur noch als cine drückende Last.
Die Legl'tl'mi'sten haffen England um dcr
Dicnste willen, die cs ihnen gelcistet. Und
ihrc Macht ist nicht zu unterschätzen. Ueben
sie auch kcinen dkrekten; so üben ste doch
einen indirekten Einfluß aus. Sie sind
schwach in ver Politik, aber stark in der
Gesellschaft; ste stnd ferncr einflußreich in
den Ackerbaudlstrkkten.

Der Kaiser hätte cs somit in seiner
Macht, Armee und Flotte zu befriedigen,
der Geistlichkeit gefällig zu sein, die Legi-
timistcn auf scine Seite zu zichcn und stch
die Stkmme eines cinigen Volks zu sichern.
Schvn als Prästdent soll Louis Napoleön
zu mehrcren Personcn gesagt habcn, die
Wiedcrherstellung des Kakserrcichs könne
nur Einen Zweck habcn: Rachc für Wa-
tcrloo und St. Helena. Man crinnere
stch seiner Wortc: „Jch repräscntire eine
Sachc, ein Prinzkp und eine Niederlage."
Die Niederlage ist Waterloo; sie soll erst
noch gcrächt werden. Die Stiftung der
St. Helena-Mcdaille tst ekn weitcres uu-
vcrkennbares Zckchen der wahren Stim-
mung vcs Kaisers gcgen England. Warum
gerade diesen Namen wählen zur Verherr-
lichung des Ruhmes des ersten Napoleon?
 
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