Heidelberger Volksblatt.
Nr. 20.
Samſtag, den 11. März 1876.
9. Jahrg.
Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Aus dunkler Zeit.
Sittenbild von Marie von Roskowska.
(Fortſetzung.)
Thymo willigte natürlich darein, hätte in wer weiß
was gewilligt, ohne nur zu fragen oder zu wiſſen, was
es ſei. Ja, er wußte überhaupt kaum, wie ihm geſchah,
als die Kette an ſeinem Arm ſank, begriff nur das Eine,
daß ſie ihm das Leben erhalten habe, er ihr die Frei-
heit danke. Und das war genng.
Beklommen, ſtatt der tiefen Bläſſe lichte Roſenglut
auf den Wangen, zögerte Benigna, ihm zu nahen und
ſcheute ſich doch auch wieder, ihm fern zu bleiben. Da
trat er zu ihr und erfaßte ſtumm ihre Hand.
Sie hob den Blick zu ihm empor und flüſterte, nur
ihm verſtändlich: „Glaubt nicht, daß Ihr damit an mich
gebunden ſein ſollt. Auf Nimmerwiederſehen! ſagtet Ihr
damals und — ich weiß wohl —“ Sie konnte nicht
weiter reden, die Lebensfarbe war wieder von ihrem
Antlitz gewichen.
„Jetzt iſt Alles,
„Damals!“ gab er innig zurück.
Alles anders! Denke nicht mehr an damals! Nur
mich laß daran denken — an das denken, was ich Dir
ſchulde.“ ö
Sie war kein Kind der Neuzeit, keine nervöſe Dame.
Nur darum ſank ſie nicht bewußtlos, überwältigt von
ihren Empfin dungen an ſeine Bruſt. Ueberwältigend
genug waren ihre Gefühle immerhin, doch hielt ſie ſich
aufrecht. An ſeiner Seite, Hand in Hand mit ihm,
kehrte ſie nach der Stadt zurück und wunderte ſich nur,
wie kurz dieſer Weg ſei, der ihr vorhin ſo lang gewor-
den. Ohne daß ſie wußte, wie ſie dahingekommen, ſtand
ſie neben ihm im Prätorium des Rathhauſes, dem Seſ-
ſtonssimmer, worin kein Unberufener Zutritt hatte.
Durch einen vorangeſandten Boten war das Rathsglöck-
lein wieder geläutet worden, das die Herren zu einer
neuen Sitzung rief. Unwillig, ob der ſchweren Amts-
pflichten, dic ſie ſelbſt bei finkender Sonne noch in ihrer
häuslichen Gemüthlichkeit ſtörten, folgten ſie dem Ruf.
Freilich bald geſpornt von Neugierde, denn Frau Fama
iſt bekanntlich ſehr geſchäftig.
Schwerathmend und erregt, wie man ihn nie geſehen,
erſchien der alte Kunz Engernſtein im Seſſionszimmer.
Kaum der Sprache mächtig, redete er doch ſogleich Be-
hier anweſende Jungfrau iſt meiner Tochter Kind.
nigna in abgebrochenen Sätzen an. „Da biſt Du, Gott-
lob, wir ließen Dich ſuchen!“ Er breitete die Arme
aus und zog bewegt, des Staunens der Umſtehenden
nicht achtend, das Mädchen an ſeine Bruſt.
Man konnte nicht ſagen, daß Thymos Blick ſich noch
mehr erhellte, er war ja vorhin ſchon glückſeligkeitſtrah-
lend. Allein es kam eine gewiſſe Ruhe und Sicherheit
über ihn, eine Gewißheit, die ihm vorhin dennoch gefehlt
hatte.
„Doch was hörte ich — iſt es denn wahr?“ Der
alte Herr blickte beſtürzt von dem glühenden Geſicht Be-
nigna's auf Thymo. ö
Sie reichte dieſem die Hand. Es war eine beredte
Antwort.
„Ich thue Einſpruch!“ erhob der Rathsherr ſich ener-
giſch und wandte ſich an die Herren, die ihre Sitze ein-
zunehmen begannen. „Dieſe Jungfrau wußte nicht, was
ſie that, als ſie ſich einen Verurtheilten zum Ehegatten
erkor. Sie darf ſo tief nicht herabſteigen unter ihren
Stand.“
Das hatte Benigna nicht erwartet, dennoch antwortete
ſie ſogleich; „Ich bin eine arme Waife. So hoch ich
Euch ehre, Herr, hier gilt Euer Einſpruch nicht. Nur
meine Mutter könnte ihn erheben, aber ſie wird es
nicht —“
Raſch fiel er ein: „Sie würde es thun, wenn ſie
koͤnnte. Und Dein Vater wird es. In ſeinem Na-
men ſtehe ich hier. Einem Edelfräulein, meiner Enke-
lin, ziemt es nicht, was die Leinewebertochter allerdings
thun durfte.“ ö ö
Außer Thymo ſtarrten alle ihn erſchreckt an, für
ſeinen Verſtand fürchtend. Benigna waren nur ſeine
erſten Worte zum Bewußtſein gekommen. „Was iſt mit
meiner Mutter? fragte ſie in banger Ahnung.
„Höre mich, Kind, hört mich, Ihr Herren. et-
ſabe Kerbelin hat die Kleine mit ihrer eigenen Toch ter
vertauſcht“ ö
Unwillkürlich erhoben ſich die Rathsherrn Das
Mädchen ſchaute wie im Traum auf den alten Herrn,
der ihr Großvater ſein ſollte. Er legte auch den Arm
um ſie, als wolle er damit ſein Recht geltend machen
gegen Jeden, der es etwa anzutaſten dächte.
„Ihr wollt, daß ich das beweiſe. Nun denn, wir
erhielten eben, und das danke ich Euch —“ wandte er
ſich an Thymo — „erſt ein Schreiben meiner Tochter
Nr. 20.
Samſtag, den 11. März 1876.
9. Jahrg.
Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Aus dunkler Zeit.
Sittenbild von Marie von Roskowska.
(Fortſetzung.)
Thymo willigte natürlich darein, hätte in wer weiß
was gewilligt, ohne nur zu fragen oder zu wiſſen, was
es ſei. Ja, er wußte überhaupt kaum, wie ihm geſchah,
als die Kette an ſeinem Arm ſank, begriff nur das Eine,
daß ſie ihm das Leben erhalten habe, er ihr die Frei-
heit danke. Und das war genng.
Beklommen, ſtatt der tiefen Bläſſe lichte Roſenglut
auf den Wangen, zögerte Benigna, ihm zu nahen und
ſcheute ſich doch auch wieder, ihm fern zu bleiben. Da
trat er zu ihr und erfaßte ſtumm ihre Hand.
Sie hob den Blick zu ihm empor und flüſterte, nur
ihm verſtändlich: „Glaubt nicht, daß Ihr damit an mich
gebunden ſein ſollt. Auf Nimmerwiederſehen! ſagtet Ihr
damals und — ich weiß wohl —“ Sie konnte nicht
weiter reden, die Lebensfarbe war wieder von ihrem
Antlitz gewichen.
„Jetzt iſt Alles,
„Damals!“ gab er innig zurück.
Alles anders! Denke nicht mehr an damals! Nur
mich laß daran denken — an das denken, was ich Dir
ſchulde.“ ö
Sie war kein Kind der Neuzeit, keine nervöſe Dame.
Nur darum ſank ſie nicht bewußtlos, überwältigt von
ihren Empfin dungen an ſeine Bruſt. Ueberwältigend
genug waren ihre Gefühle immerhin, doch hielt ſie ſich
aufrecht. An ſeiner Seite, Hand in Hand mit ihm,
kehrte ſie nach der Stadt zurück und wunderte ſich nur,
wie kurz dieſer Weg ſei, der ihr vorhin ſo lang gewor-
den. Ohne daß ſie wußte, wie ſie dahingekommen, ſtand
ſie neben ihm im Prätorium des Rathhauſes, dem Seſ-
ſtonssimmer, worin kein Unberufener Zutritt hatte.
Durch einen vorangeſandten Boten war das Rathsglöck-
lein wieder geläutet worden, das die Herren zu einer
neuen Sitzung rief. Unwillig, ob der ſchweren Amts-
pflichten, dic ſie ſelbſt bei finkender Sonne noch in ihrer
häuslichen Gemüthlichkeit ſtörten, folgten ſie dem Ruf.
Freilich bald geſpornt von Neugierde, denn Frau Fama
iſt bekanntlich ſehr geſchäftig.
Schwerathmend und erregt, wie man ihn nie geſehen,
erſchien der alte Kunz Engernſtein im Seſſionszimmer.
Kaum der Sprache mächtig, redete er doch ſogleich Be-
hier anweſende Jungfrau iſt meiner Tochter Kind.
nigna in abgebrochenen Sätzen an. „Da biſt Du, Gott-
lob, wir ließen Dich ſuchen!“ Er breitete die Arme
aus und zog bewegt, des Staunens der Umſtehenden
nicht achtend, das Mädchen an ſeine Bruſt.
Man konnte nicht ſagen, daß Thymos Blick ſich noch
mehr erhellte, er war ja vorhin ſchon glückſeligkeitſtrah-
lend. Allein es kam eine gewiſſe Ruhe und Sicherheit
über ihn, eine Gewißheit, die ihm vorhin dennoch gefehlt
hatte.
„Doch was hörte ich — iſt es denn wahr?“ Der
alte Herr blickte beſtürzt von dem glühenden Geſicht Be-
nigna's auf Thymo. ö
Sie reichte dieſem die Hand. Es war eine beredte
Antwort.
„Ich thue Einſpruch!“ erhob der Rathsherr ſich ener-
giſch und wandte ſich an die Herren, die ihre Sitze ein-
zunehmen begannen. „Dieſe Jungfrau wußte nicht, was
ſie that, als ſie ſich einen Verurtheilten zum Ehegatten
erkor. Sie darf ſo tief nicht herabſteigen unter ihren
Stand.“
Das hatte Benigna nicht erwartet, dennoch antwortete
ſie ſogleich; „Ich bin eine arme Waife. So hoch ich
Euch ehre, Herr, hier gilt Euer Einſpruch nicht. Nur
meine Mutter könnte ihn erheben, aber ſie wird es
nicht —“
Raſch fiel er ein: „Sie würde es thun, wenn ſie
koͤnnte. Und Dein Vater wird es. In ſeinem Na-
men ſtehe ich hier. Einem Edelfräulein, meiner Enke-
lin, ziemt es nicht, was die Leinewebertochter allerdings
thun durfte.“ ö ö
Außer Thymo ſtarrten alle ihn erſchreckt an, für
ſeinen Verſtand fürchtend. Benigna waren nur ſeine
erſten Worte zum Bewußtſein gekommen. „Was iſt mit
meiner Mutter? fragte ſie in banger Ahnung.
„Höre mich, Kind, hört mich, Ihr Herren. et-
ſabe Kerbelin hat die Kleine mit ihrer eigenen Toch ter
vertauſcht“ ö
Unwillkürlich erhoben ſich die Rathsherrn Das
Mädchen ſchaute wie im Traum auf den alten Herrn,
der ihr Großvater ſein ſollte. Er legte auch den Arm
um ſie, als wolle er damit ſein Recht geltend machen
gegen Jeden, der es etwa anzutaſten dächte.
„Ihr wollt, daß ich das beweiſe. Nun denn, wir
erhielten eben, und das danke ich Euch —“ wandte er
ſich an Thymo — „erſt ein Schreiben meiner Tochter