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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 50.1899-1900

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Haupt, Albrecht: Gedankenspäne zur neuen Bewegung, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7134#0236

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Gedankenspäne zur neuen Bewegung,

züge, plötzlich in einem nervös zuckenden Schwänzchen
endigend, wie sie in dem welken Schilfornament der
Belgier ihre herrlichste Ausbildung fanden, sind wirk-
lich und wahrhaftig ein vollkommener Ausdruck j
unserer Zeit und unserer Noth. „Gehirnerweichungs-
linie", dieser Ausdruck drängte sich unwillkürlich auf
meine Lippen, als ich ihnen zuerst in Brüssel be-
gegnete. Man nreinte, das fei wirklich kaunr ernst !
zu nehmen, und heute hat es sich die Welt erobert. !
Zn Gisen und polz, an Denkmälern und in aus- |
geschnittenen Brettern, beim Juwelier und beim Buch-
drucker, überall wimmeln diese Aquariumsergebnisse.
Diese Blutegel- und Tintenfischpoesie, diese Ver-
klärung der Bandwürmer wird den sinnvollen
Rahmen bilden für die Blätter, die das 20. Jahr-
hundert mit ich weiß nicht was beschreiben wird.

Wenn nun aber die moderne Aritik etwas wunder-
licher Weife von strenger Aonstruktivität, von innerer
Wahrheit der neuen Aunst, von angestrengtestem,
ernstestenr Naturstudium redet, so ist das nicht so wört-
lich zu nehmen. Vielleicht ist der Ausdruck „innere
Wahrheit" hier noch der richtigste, denn er ist elastisch
genug für jeden Gebrauch. Aber das Alles gehört
eben zu der neuen Sprache, die sich die Aunstschrift-
stellerei des Aommenden hat erst schaffen müssen;
vielleicht ist es gerade das Wichtigste dabei, daß
man sich bei jedem Ausdruck etwas unendlich Tiefes,
etwas eigentlich gar nicht Auszusprechendes, etwas
nur zu Fühlendes vorzustellen suchen muß.

Daß eine moderne Aunst in einem Zeitalter,
wo nicht nur mehr Jäger und Jockeys, sondern selbst
Radfahrer und Sammler von Liebigbildern ihre
eigene Sprache sprechen, geheimnißvoll und poetisch,
nur dem Eingeweihten völlig durchsichtig, auch ein
eigenes Zdiom verlangt, bedarf keines Beweises.

367. Exlibris von A. Meisgerber, München.

366. Exlibris von A. Weisgerber, München.

Und so sind wir denn auch richtig so weit, daß das
neue „Milieu" der Aunst von einer Sprache durch-
stuthet wird, die an gefühlten: Schwung und an
Eigenart völlig ein Gegenstück zu der modernen
Poesie eines Arno cholz bildet. Sie sind für den
Neuling bestrickende Musik anderer Sphären, diese
hohen Reden von neuen „Wertsten", die in der
Aunst geschaffen sind, diese Dichterphilosophieen ä In
Nietzsche, die überall eine neue „Note", eine „Um-
werthung aller Werths", Gegenüberstellung beson-
derer Tonwerthe und was alles finden, die die neue
Aunst schließlich völlig „jenseits von Gut und Böse"
stellen werden.

Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß trotzdem
Vieles schon dagewesen ist von dem, was so neu
erscheint. So spielt z. B. jene zappelige Ornamentlinie
in der gothischen Dekorationsmalerei des \5, Jahr-
hunderts bereits eine gewisse Rolle, so steckt in Pro-
dukten des Bauerntischlers, des Empire eine ganze
Menge des Bretterstyls der Gegenwart; so ist doch
auch die moderne Buchausstattung ohne die Vorbilder
der Spätgothik und Renaissance gar nicht denkbar.
Aber das ist wieder ein unbestreitbares Verdienst,
jene alten Zdeen erweitert zu haben nach allen
 
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