Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

DOI issue:
Heft 10 (Juliheft)
DOI article:
Kahane, Arthur: Vom Bildersehen
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0240

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
anders. Aber du rvirst schweigen und das Gehei'mnis zwischen dir und dem Künstler
keinem dritten sagen, schon weil du's nicht sagen kannst.

Und du brauchst nicht zu sürchten, daß über der Verwandlung du dir selbst verloren
gehst, denn es stecken in jeder menschlichen Seele viele Möglichkeiten von Seelen,
und in je mehr du dich verwandeln kannst, umso näher kommst du dir selbst.

Jch glaube, daß es zur Seele des Kunstwerks keinen andern Weg gibt als über seine
Technik, und daß es zur Technik des Kunstwerkes keinen andern Weg gibt als über
die Seele des Künstlers. Jch glaube, daß es zur Seele des Künstlers keinen andern
Weg gibt, als den dieser Verwandlung in den Künstler zur Stunde seines Schöpfer-
erlebnisses. Jch glaube, daß diese Verwandlung jedem möglich ist, der Phantasie
hat. Jch glaube, daß der Phantasie kein anderes Mittel der Derwandlung gegeben
ist als das intensive Schauen.

Die Phantasie des Menschen ist begabter als seine Sprache und das Auge ist ihr
begabtestes Organ. Aber was heißt Phantasie anderes als sich verwandeln kön-
nen? Mit seinem phantasiebegabten Auge dringt der Mensch ins Jnnere der Natur:
sie erschließt sich ihm, der ein Stück von ihr geworden ist. Mrt dem Auge und der
Phantasie sieht der Mensch dem andern Menschen ins Gesicht und errät seine ge-
heimsten Gedanken: wie könnte er sie erraten, wenn er in diesem Augenblick nicht
der andere selber wäre? Der Fakir schaut ins Nichts, aus dcn eigenen Nabel und
die konzentrierte Kraft seineS Blicks gibt ihm die Macht, mrt sich alles zu machen,
was er will, sich in alles zu verwandeln, worin er sich verwandeln will. Der
Schauspieler blickt in seinen Spiegel und er hört auf, er selbst zu sein, wird eln
anderer, sein Gesicht, sein Körper, seine Seele nimmt jede Form an, die seine
Phantasie ihm diktiert. Und wer so wie der Freund, wie der Fakir, wie der
Schauspieler, einem Bilde ins Jnnere des Auges zu schauen vermag, wird an sich
den Zauber erfahren, wie er langsam in die Seele deS Künstlers hinübergleitet und
das Wunder der Stunde zum zweiten Male geschieht, in dcr das Kunstwerk emp-
fangen wurde.

Wie könnte einer mit diesem willigen und ehrfürchtigen Blick vor TizianS Bild-
nissen stehen und es nicht erleben, daß sich ein seltsam stiller, silbern verklärter
Glanz auch über seine Seele legke? Wie? Soll dieser Glanz nicht mehr scin als ein
bloßeS Zunftgeheimnis, engherzig behütet und von der Laune des Zufalls abhängig,
der es weitergibt oder nicht? Wie wäre es dann möglich, daß Tizian immer
wieder und Tizian allei'n unter allen Molern und kein anderer Maler vor und nach
Tizian ihn hat? wenn Tizian den Glanz nicht vorher in seiner Seele gehabt hat,
bevor er ihn malte? Dem hingerisscn Schauenden kommen solche Zweifel nichk.
Vor dem Wiener Bilde des G i o r g i o n e: cin Orgelkonzert dcr Farbe: gold und rot
und violett und weiß und grün und ein dunkles Graubraun. Man nannte eS: die
drei Weisen aus dem Morgenlande oder Evander, Aeneas und Pallas, oder die drei
Feldmesser, oder die drei Mathematiker, oder die drei Sterndeuter, oder die drei
Lebensalter, oder die drei Grade des saturnischen Bundes. Was geht's mich an!
wenn es niir nur gefällk. Was? Das sollte mich nichts angehen? Es sollte irgend-
einen Gedanken geben, der in jenen heiligen Stunden des Schasfens jenem Manne
durch den Kopf, durch das Herz, durch die Seele schoß, der mich nichts anginge,
der mir gleichgültig bleiben könnte? Gierig schnappe ich nach jeder Möglichkeit, die
mich jener Stunde und jener Seele nähcrbringt, und schaue so lange mit trunkenen
Augen, bis ich Giorgione bin und das Leben sehe, grün wie er es sah, und den Ab-
grund sehe, dunkel wie er ihn sah, und in meineö Bewußtseins tiefem Jnnern das
Undeutbare weiß. Wie weiß ich die Stunde, da dieser seltsame und undurchsichtige
Mönch Fra Sebastiano vor den edelsten Gentiluommi und Prinzipessen saß
und von ihren stolzen und unbewegten Gesichtern die Leidenschaften las wie im eige-

206
 
Annotationen