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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 11 (Augustheft)
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Schumann, Wolfgang: Lebenskunst: ein Programm
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0308

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Demwch! es gibt gegenseitige Hilfe! Schon die bloße Hilfs b e r e > t schaft, mag sie
an slch noch nichts Greifbares bewirken, bedentet im Menfchllchen viel. Jmmer steht
der Weg der Erziehimg, der Belehrung, des Gedankentaiifchs offen. Und er ist nicht
aussichtlos, ist sogar von den Blüten des Bertranens beftanden und vom Duft der
Liebe überwebt. Mag gering sein, waS wir vermögen, so vermögen wir doch nicht
nichts.

Die großen Bäter der Weisheit, Männer, deren Namen die Gefchichte der Menfch-
heit nennt, stehen Pate bei der einfachen Lebenskunft, von der zu reden ift. Jch sage,
einfach sei sie. Jn der Tat: nicht große Philosopheme nnd Theorien werden fruchten,
deren wir eine llberzahl besitzen. Jeder ausgelernte Student kann sie heute mit ein
wenig Dialektik und Problemkenntnis vermehren. Uns fehlt es nicht an Hochgeiftig-
keit. Nicht an „Spitzenleisiungen". 2lber sehr an der Auswertung unseres unermeß-
lichen Besitzes und Erbeö im Dienfte des täglichen LebenS. Wofür hat die geiftige
Menfchheit gefchaffen und gespeichert? Blickt man um sich, so ift man versucht, zu
sagen: für Privatdozenten und Feuilletoniften, die sich ihre Stellungen und Sporen
verdienen, indem sie ausdeuten und ausbeuten, waS unS gefchenkt wurde; für das
müßige Gerede derer, die nichts fchaffen, noch helfen. Und die Leidenden darben
dabei.

Gemäß der Einftellung der Zeit, daß Alle jederzeit genau „wissen", warum irgend
etwaü falfch oder unmöglich ift, erheben sich an dem Eingang zu jeder Lebenükunftlehre
heftige und grundsätzliche Einwände. Sagt man: Besinnung ift der erfte Schritt,
so wird erwidert: Seid vor allem vorsichtig mit Besinnung! denn sie macht das
Leben bewußt, und Bewußtheit bedeutet gebrochene Jnftinkte: Lähmung der frifchcn
Entfchlußkraft. Man erinnert an NietzfcheS Kampf wider Sokrates. DieseS Wind-
mühlengefecht hätte Nietzfche indes in ernfthaftem Streit nicht durchhalten können.
Er wäre gefcheitert an der Aufgabe, das vieldeutige Wort „Jnftinkt" so zu definieren,
daß es einen unzweifelhaften Borzug vor Besonnenheit gehabt hätte. Was wir ge-
wöhnlich — unklar genug, und zwar unabänderlich unklar — Jnftinkt nennen, ift ein
Gemifch aus angeborenen und angelernten, guten und unguten inneren Antrieben;
es ift nicht viel mehr wert, als von Besinnung „gebrochen" zu werden. Anftatt an
den auS Kränklichkcit heldifch perorierenden Nietzfche sollten wir an Kleift oder Höl-
derlin denken, an jene alte klassifch-romantifche Lehre von den drci „Ständen" unsereS
Wesens: dem angeborenen Naturftand, dem Übergangftand selbftprüferifcher Besin-
nung und dem Zuftand, da Selbftkontrolle, Besonnenheit und Zielklarheit unS „zur
zweiten Natur werdcn". Zur Natur, nicht zur Pedanterie! in der Tat, alle Bor-
nahmen der Lebenskunft sollen so aussehen, daß die frifche Farbe der Entfchließnng
nicht dauernd von des Gedankens Blässe angekränkelt wird. Solche Gefahr aber ift
überwindbar und darf niemand abfchrecken!

fchr zum Trotz bleibt B e s i n n u n g der Lebenskunft erfter Schritt. Du mußt
fteigen oder fallen, du mußt herrfchen und gewinnen oder dienen nnd verlieren, Am-
boß oder Hammer sein — was w i l I ft du? Wer Lebenskunft ablehnt, wird fallen,
dienen und verlieren. Er wird getrieben werden und daS Leben crleiden als nnselb-
ftändige Persönlichkeit. Herrfchen und Hammer sein wird allcin der Besonncne.
Abermals wendet Kriti'zismus ein: „Bersprecht ihr Herrfchcrtum 2lllen? auch den
Millionen der Erbelosen, Elcnden, Nothaften, Kranken -—? verheißt euer bißchcn
Lebcnskunfr auch ihnen das Glück des Gewinnens und Steigens?" „Gcwiß nicht so
reines Glück wie den vom Schicksal Bcgünftigten," erwidern wird, „aber im gegebenen
Rahmen des LeidenS die Kraft, es mutiger zu ertragen." Anch Leiden ift ein relativer
Begriff; und doppelt leidet, wer dem Elend i n n e r I i ch iinterliegt. Fortcü fortuna
adjuvat! Ein dritter Skeptifcher nun spöttelt endlich: „Selbftlcnkung, Selbfterzie-
hung, Selbftbesinnung, Selbftfteigcrung — cü fehlt nnr noch Selbftflncht! blnd doch

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