Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Lebenskunst: ein Programm
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0309

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
hat ein gewisser Goethe nicht umsonst jene Derse gemacht von dem »Geseh, nach
dem dn angetreten«, dem du »nicht entsliehen« kannst — »du bleibst doch immer, der
du bist!« Doch auch ein Faustzitat, so guten Sinn es haben mögc, ist kein Beweis.
Aus der andern Blattseite stehcn auch Erfahrungen. Oder erziehen wir Kinder und
Jugendliche etwa nicht; wcil wir sie ja doch nicht „ändern" könnten? Hat nicht
mit vollem Recht ein so tiefblickender Psychologe wie Alfrcd Adlcr geäußert: An-
lagen mag es geben, doch wichtig ist allein, „was man daraus macht" —? Hat sich
noch nie jemand etwaS an-, ctwas abgewöhnt? Berge versetzen will Lebenskunst nicht.
Aber Wegc suchen und bahnen und den Gang des Schreitenden erleichtern . ..

Das heißt praktisch: Lcbenskunst hat eS mit unserm Gefuhl, unsern Affekten, un-
sern Anlagen, unsern Trieben und Lebensformen zu tun; und mit der Art, wie man
„eü damit zu tun haben" kann.

Bon Gefühl ist kürzlich in einem Aufsatz „Derdorrte Zeit" hier die Rede gewesen.
Doch habe ich bei dieser Gelegenheit das Wort „Gefühl" nicht im psychologischen
Sinnc genommen, sondern nach alltäglichem Sprachgebrauch angewendet: nmfassend
alleS, waü psychisch auf unser Gefühl einwirkt. Die strengere Besinnung, welche
für zlelklarc Lebenskunst notwendig wäre, müßte, kurz gefaßt, sagen: Gefühl ist
die Antwort unseres Jchs auf unscre Erlebnisse, Widerfahrnisse, Betätigungen:
unser Ja oder Nein, unser Willkommen oder Unwillkommen dazu. Anders ausge-
drückt: cS ist der Anzeiger unsereS Zustandes, wie er vom Erlcben bestimmt wird.
Es erschöpft sich nicht ganz, aber fast, und sicherlich, soweit es die Lebenskunst angeht,
in Lust und Unlust mit all ihren äußersten, all ihren Halb- und Misch-Formen, sei
eü Jubel oder Schmerz, Trauer oder Freude, Wehmut, „Unter-Tränen-Lächeln" oder
Eleichgültigkeit. Eine alte und bedeutsame Philosophie nun lehrt, das rechte Leben
sei der Lust gcwidmet. Der Schöpfer dieser Lehre hat am Ende etwas durchauS Wür-
digeü unter „Lust" verstanden, wic er denn ein bedcutender und nicht unweiser Mann
war. Erst in spätercr Zeit, besonders als man begann, Lust schlechthin niit sinnlicher
und noch engcr mit erotischer odcr nackt mit „flcischlicher" Lust gleichzusetzen, kam
die Lust-Philosophie — bekannt unter dem stolzeren Namcn des Hedonismus — in
Mißbeliebtheit. Ja, sie verfiel der Derachtung. Jn gewissem Sinne sehr zu Un-
recht. Einfach deswegen, wcil doch fchließlich ein Jeglicher, wohl ohne nennenswerte
Ausnahme, nach Lust strebt, und weil in Wahrheit nicht daS Luststreben, sondern öer
Jnhalt des „wahren" Lustbegriffs strittig ist. Was echte Lust und berechtigte Lust sei,
darübcr ist nun freilich auch in jeneS Epikur Lehren nicht eben AuSreichendeS zu lesen.
Unker dem Titel „Gefühl" aber kann die LebenSrunstlehre diese uralte Frage nicht
entschciden. Hier bringt sie die einfache Wahrheit zur Geltung, daß eS sich um nnser
gcsamteS LebcnSgefühl handelt, nicht um minuten- oder stundcn-, nicht cinmal um
tagelangen „Lustgewinn"; daß also nur der ihr gcrecht wird, der auf sein ganzes
Leben sicht und außer dem Spcrling in der Hand wirklich auch die Taube auf dem
nächsten Dache in Betracht zieht. Bor allem aber entspricht es der LebenSkunst,
überhanpt zu fühlen. WelchcS Lebensgefühl könnte je unscrm Anspruch auf
Glück gcnügen, das fchwach, undurchlebt und gleichgültig wäre!? Hier ist ein An-
laß, zu fühlcn, hier ist ein andauerndes Erlebnis — wie fühle ich mich? Das ist
eine entschcidende Frage. Höre die innere Stimme! übe dich im Schweigcn und
Stillesein und Draufhorchen! vcrnimm das Ja und das Ncin deines Herzens — fühlc!
Damit bcginnt Lebenskunst, fast glcichgültig fürs crste, ob du die Ursachen dcs Ge-
fühlü längcr dulden willst oder nicht, ganz unbekümmcrt um die philvsophische Frage,
welchc Ursachen gerechtfertigte Lust hat und wclche nicht.

Schon gcgenüber Affekten ist jede Lebenskunstlchre zu schärfer thcoretifch zuge-
spitzten Anlcitungen herauSgefordert; hier muß sie wcit deutlichcr „Farbe bekenncn".
Denn wcnn sie noch sagen darf: Gcfühl ist in bedingtem Grade und Sinn um seiner

271
 
Annotationen