Darstellung seiner Lchre zn geben versucht haben, sv wnrde ihm
wvhl kanm mehr gelungen sein als „Pfahle und leeres Gernst"
aufznschlagen. Zählt man aber die verschwindend geringe
Zahl vvn Seitcn dieses Buches, die einer wirklichen Ervrterung
der hier in Frage kommenden Theorie gewidmet sind, so wird
es begreiflich, daß der Bersasser die tausend nnd äbertausend
sich aufdrängenden Fragen und Einwände unbeantwortet lassen
mußte. Er befindet sich in einer Tüuschung, wenn er in der
Porrede sagt: „Nicht jede Seite der Frage konnte ich er-
schöpfen; meist war es mir nicht vergönnt niehr zu gebcn, als
die Schlußsätze oft langer Gedankenreiheu. Die völlige Un-
vereinbarkeit anarchistischer und kommunistischer Weltanschanung,
die Zwecklosigkeit nnd Schädlicht'eit gewaltsamer Taktik, sowie
die Unmöglichkeit irgend einer »Lösung der sozialen Frage«
durch den Staat hoffe ich bewiesen zu haben". Nein! —
Weder dies noch irgend etwas anderes kann als vom Ver-
fasser „bewiesen" betrachtet werden, falls man an die Über-
zeugungskrast cines Beweises anch nur einige Nnsprnche stellt.
Nicht nnr nicht „jede Seite der Frage", sondern überhanpt
keine Seite dcr Frage hat er „erschöpft". Nicht einmal die
so relativen nnd verschwommenen Grundbegrisfe, Jndividualis-
mns und Sozialismns, Egoismus und Altruismus u. s. f.
finden ihre scharfe Analyse uud Umgrcnzung. Während
nm nnr ein Beispiel anzuführeu aus den Betrachtnngen
einiger Seiten sich der Satz ergiebt: Es giebt kcinen Altruis-
mus; alle Handluugen sind im Grunde egoistisch, — folgt
aus den Darlegungen anderer Seiten der Satz: aller Altruis-
mus ist schädlich. Beide Sätze sind aber unvereinbar, so
lange keine nähcre Auflösung der Begriffe Altruismus und
Egoismus erfolgt. Eine solche ist aber nirgends vorhanden.
Wer — zumal ohne Kenntuis Stirners und Proudhons —
an die Lektüre des Mackayschcn Werkes geht, wird gewiß viel
Anregung aus ihm schöpfen. Klarheit nnd Einsicht erhält cr
aber ebenso wenig wie einen reinen Genuß an Gebildcn einer
freien künstlerischen Gestaltungskraft. A. Lrdmaun.
Tdeater.
* MUcdtlgete Scbauspiel-NuMbruugen. XXXII.
Ein Lustfpielvon Guinon und Denier, „die Dummen"
(tües flobmcks), ist im Berliner Residenztheater anfgeführt
worden. Uns wird darüber berichtet:
Die Dummen sind die anständigen Leute. So ein Dummer
ist z. B. Henri Bonnardet, der sein ganzes Vermögen,
800,000 Frcs., hingiebt, als er erfährt, daß sein Vater es
nicht auf sehr schöne Weise erworben hat. Man braucht nuu
freilich, wie mir scheint, keineswegs zu jeüen zu zähleu, die
sich jedwedes Ding nur in der Form eiues Geschäftes uud
in seinen Beziehungen zum Zählbrette denken können, um die
Verständigkeit und sittliche Notwendigkeit dieses Schrittes an-
zuzweifeln; aber französischem Pathos genügt es nun einmal
nicht, die Geschäftshallunken und Geschäftsbanausen in einen
Gegensatz zu ftellen zu denen, die auch in Geld- und Ge-
schäftsdingen vornehm und hochsinnig handeln und denken, -
da muß vielmehr gleich eine in Edelmut über und über ge-
tauchte That erdacht, und es müssen viele schöne Reden ge-
halten werden, in denen mehrere wehmutdurchzitterte „Mein
lieber Junge" und „Meine arme Mutter" vorkommen. Das
Publikum war sehr gerührt: obwohl wir Wilden bessere
Menschen sind, ist es doch sehr angenehm, einmal einen so
heroisch anständigen Menschen — nämlich auf der Bühne
zu sehen, und es macht einen angenehm-wollüstigen Schauer,
wenn da Einer 800,000 Franken mit einer einzigen Hand-
bewegung weggiebt, „als wäre es eben ein Pappenstiel".
Trotzdem war das Publikum euttäuscht, wcil es im
Residenztheater seine kleine Frivolität erwartet hatte. Dies
Stück aber ist anftändig, es ist sogar ernsthaft. Aber der
Ernst wird eben sosort aufgedonnert oder butterweich, und nur
einigc Szenen, in denen die gerissenen Biedermänner an ein-
ander kontrastirt werden, sind mit Laune und Witz behandelt.
Hätten die Verfasser diese humorvolle Behandlungsweise fest-
gchalten, hätten sie den ernsten Gegenstand nur als duukleu
Gruud verwendet und von ihm, wie es in „Cyprienne" ge-
schieht, eine lustige, anekdotische Handlung sich hell abheben
lassen, sie hätten voraussichttich eine recht hübsche Komödie
geschaffen. So ist das Stück nicht Fisch noch Fleisch. Denn
von einer tieferen Erfnssnng des sittlich-sozialen Problems,
von einer Entwickelung aus den Charakteren ist ja keine Rede,
und vollcnds vor der Lösung irren die Verfasser ganz hilflos
herum. Der ehemalige 800,000 Francs-Besitzer kommt so weit,
daß ihm eine kärglich besoldete Stellung höchst erftrebenswert
erscheint; da er aber, um sie zu erlangen, verheiratet sein
muß, so redet man ihn in aller Eile niit einem armen
Mädchen zusammen, das in jeder Ehe eincn erwünschten Aus-
weg aus ihrer Ascheubrödclstellung im Hause eines reichen
Verwandten erblickt. Mit der Ansicht, daß dieser Abschluß eine
Gefühlsrohheit ist, scheine ich so ziemlich allein zu stehen:
anders aber kann ich cin so hastiges Zusainmenkoppeln zweier
Leute, zwischen denen gar keine gemütlichen Beziehungen be-
stehen, nicht nennen. Eine Lösung nun gar ist dieser alle
Erwartungen düpirende schlechte Witz in keinem Falle.
Die lehrreiche Moral des Stückes ist für uns die, daß
die moderne französische Dramatik, soweit sie sich ernsthaft
giebt, zu dem Kranze dramatischer Weltliteratur, deu wir
unserer Bühne erhalten wollen, kaum eine Blüte beisteuern
kann. Sind ihre Erzeugnisse nicht Jntriguenstückc, so wird
ihr der Ernst unter der Hand zu hohlem Pathos und gezierter
Empfindsamkeit. Nur die Dramen, in denen der französische
Geist den ihm eigentümlichen behenden Witz und die feinste
Grazie äußert, können für unseren Spielplan wertvoll sein;
und das werden wenige sein, schließt man die aus, die ab-
stoßender Frivolität voll sind. So, meine ich, wird heut jeder
Mensch von Kultur uuser Verhältnis zur modernen sran-
zösischen Dramatik ansehen; und das ist doch immerhin ein
Fortschritt, denn damit fällt anch die noch vor zehn, vor fünf
Jahren inuner wiedcrholte Behauptung, daß uns die Fran-
zosen in Sachen der Technik Vorbild sein müßten.
Albert Dresdner.
Vielleicht wegen der freundlichen Aufnahme, die das Dresd-
ner Publikum mehr als ein anderes der „Wahrheit" bereitet
hatte, wurde das neueste Stück von Paul Heyse, das Lust-
spiel „Ein unbeschriebenes Blatt", in Dresden noch eher auf-
geführt, als auf dem Berliner Lessingtheater — aber Kritik
und Zuschauer bereiteten diesmal dem Dichter eiue Enttäusch-
ung. Uns wird geschrieben:
Das Stück, das einen entschieden lehrhaften Zug trägt,
soll, wie das Schauspiel „Währheit" uns des Verfassers An-
sichten uber den Wert der Wahrheitsliebe und der rücksichts-
losen Offenheit im gesellschaftlichen Verkehr entwickelte, des
Dichters Anschauuugeu über die Frauenfrage, so weit sie im
Gebiete der Mädchenerziehung zur Geltuug kommt, in einer
Reihe von Szenen zur Darstellung bringen. Wenigstens muß
man dies als die Hauptabsicht des Dichters vermuten, wenn
auch die Anlage des Stücks so verworren uud unklar ift, daß eiu
Bild defsen, was Heyse wollte, nicht hervorspringt. Jedenfalls
stellt er zwei Mädchencharaktere einander gegenüber, die schein-
bar in grellem Wiederspruch zu eiuander sich befindeu: ein
Mädchen, das trotz der Enge des orthodoxen Hauses, in dem
es aufgcwachsen, sür Freiheit des Weibes und Ungebundenhcit
— s —.
wvhl kanm mehr gelungen sein als „Pfahle und leeres Gernst"
aufznschlagen. Zählt man aber die verschwindend geringe
Zahl vvn Seitcn dieses Buches, die einer wirklichen Ervrterung
der hier in Frage kommenden Theorie gewidmet sind, so wird
es begreiflich, daß der Bersasser die tausend nnd äbertausend
sich aufdrängenden Fragen und Einwände unbeantwortet lassen
mußte. Er befindet sich in einer Tüuschung, wenn er in der
Porrede sagt: „Nicht jede Seite der Frage konnte ich er-
schöpfen; meist war es mir nicht vergönnt niehr zu gebcn, als
die Schlußsätze oft langer Gedankenreiheu. Die völlige Un-
vereinbarkeit anarchistischer und kommunistischer Weltanschanung,
die Zwecklosigkeit nnd Schädlicht'eit gewaltsamer Taktik, sowie
die Unmöglichkeit irgend einer »Lösung der sozialen Frage«
durch den Staat hoffe ich bewiesen zu haben". Nein! —
Weder dies noch irgend etwas anderes kann als vom Ver-
fasser „bewiesen" betrachtet werden, falls man an die Über-
zeugungskrast cines Beweises anch nur einige Nnsprnche stellt.
Nicht nnr nicht „jede Seite der Frage", sondern überhanpt
keine Seite dcr Frage hat er „erschöpft". Nicht einmal die
so relativen nnd verschwommenen Grundbegrisfe, Jndividualis-
mns und Sozialismns, Egoismus und Altruismus u. s. f.
finden ihre scharfe Analyse uud Umgrcnzung. Während
nm nnr ein Beispiel anzuführeu aus den Betrachtnngen
einiger Seiten sich der Satz ergiebt: Es giebt kcinen Altruis-
mus; alle Handluugen sind im Grunde egoistisch, — folgt
aus den Darlegungen anderer Seiten der Satz: aller Altruis-
mus ist schädlich. Beide Sätze sind aber unvereinbar, so
lange keine nähcre Auflösung der Begriffe Altruismus und
Egoismus erfolgt. Eine solche ist aber nirgends vorhanden.
Wer — zumal ohne Kenntuis Stirners und Proudhons —
an die Lektüre des Mackayschcn Werkes geht, wird gewiß viel
Anregung aus ihm schöpfen. Klarheit nnd Einsicht erhält cr
aber ebenso wenig wie einen reinen Genuß an Gebildcn einer
freien künstlerischen Gestaltungskraft. A. Lrdmaun.
Tdeater.
* MUcdtlgete Scbauspiel-NuMbruugen. XXXII.
Ein Lustfpielvon Guinon und Denier, „die Dummen"
(tües flobmcks), ist im Berliner Residenztheater anfgeführt
worden. Uns wird darüber berichtet:
Die Dummen sind die anständigen Leute. So ein Dummer
ist z. B. Henri Bonnardet, der sein ganzes Vermögen,
800,000 Frcs., hingiebt, als er erfährt, daß sein Vater es
nicht auf sehr schöne Weise erworben hat. Man braucht nuu
freilich, wie mir scheint, keineswegs zu jeüen zu zähleu, die
sich jedwedes Ding nur in der Form eiues Geschäftes uud
in seinen Beziehungen zum Zählbrette denken können, um die
Verständigkeit und sittliche Notwendigkeit dieses Schrittes an-
zuzweifeln; aber französischem Pathos genügt es nun einmal
nicht, die Geschäftshallunken und Geschäftsbanausen in einen
Gegensatz zu ftellen zu denen, die auch in Geld- und Ge-
schäftsdingen vornehm und hochsinnig handeln und denken, -
da muß vielmehr gleich eine in Edelmut über und über ge-
tauchte That erdacht, und es müssen viele schöne Reden ge-
halten werden, in denen mehrere wehmutdurchzitterte „Mein
lieber Junge" und „Meine arme Mutter" vorkommen. Das
Publikum war sehr gerührt: obwohl wir Wilden bessere
Menschen sind, ist es doch sehr angenehm, einmal einen so
heroisch anständigen Menschen — nämlich auf der Bühne
zu sehen, und es macht einen angenehm-wollüstigen Schauer,
wenn da Einer 800,000 Franken mit einer einzigen Hand-
bewegung weggiebt, „als wäre es eben ein Pappenstiel".
Trotzdem war das Publikum euttäuscht, wcil es im
Residenztheater seine kleine Frivolität erwartet hatte. Dies
Stück aber ist anftändig, es ist sogar ernsthaft. Aber der
Ernst wird eben sosort aufgedonnert oder butterweich, und nur
einigc Szenen, in denen die gerissenen Biedermänner an ein-
ander kontrastirt werden, sind mit Laune und Witz behandelt.
Hätten die Verfasser diese humorvolle Behandlungsweise fest-
gchalten, hätten sie den ernsten Gegenstand nur als duukleu
Gruud verwendet und von ihm, wie es in „Cyprienne" ge-
schieht, eine lustige, anekdotische Handlung sich hell abheben
lassen, sie hätten voraussichttich eine recht hübsche Komödie
geschaffen. So ist das Stück nicht Fisch noch Fleisch. Denn
von einer tieferen Erfnssnng des sittlich-sozialen Problems,
von einer Entwickelung aus den Charakteren ist ja keine Rede,
und vollcnds vor der Lösung irren die Verfasser ganz hilflos
herum. Der ehemalige 800,000 Francs-Besitzer kommt so weit,
daß ihm eine kärglich besoldete Stellung höchst erftrebenswert
erscheint; da er aber, um sie zu erlangen, verheiratet sein
muß, so redet man ihn in aller Eile niit einem armen
Mädchen zusammen, das in jeder Ehe eincn erwünschten Aus-
weg aus ihrer Ascheubrödclstellung im Hause eines reichen
Verwandten erblickt. Mit der Ansicht, daß dieser Abschluß eine
Gefühlsrohheit ist, scheine ich so ziemlich allein zu stehen:
anders aber kann ich cin so hastiges Zusainmenkoppeln zweier
Leute, zwischen denen gar keine gemütlichen Beziehungen be-
stehen, nicht nennen. Eine Lösung nun gar ist dieser alle
Erwartungen düpirende schlechte Witz in keinem Falle.
Die lehrreiche Moral des Stückes ist für uns die, daß
die moderne französische Dramatik, soweit sie sich ernsthaft
giebt, zu dem Kranze dramatischer Weltliteratur, deu wir
unserer Bühne erhalten wollen, kaum eine Blüte beisteuern
kann. Sind ihre Erzeugnisse nicht Jntriguenstückc, so wird
ihr der Ernst unter der Hand zu hohlem Pathos und gezierter
Empfindsamkeit. Nur die Dramen, in denen der französische
Geist den ihm eigentümlichen behenden Witz und die feinste
Grazie äußert, können für unseren Spielplan wertvoll sein;
und das werden wenige sein, schließt man die aus, die ab-
stoßender Frivolität voll sind. So, meine ich, wird heut jeder
Mensch von Kultur uuser Verhältnis zur modernen sran-
zösischen Dramatik ansehen; und das ist doch immerhin ein
Fortschritt, denn damit fällt anch die noch vor zehn, vor fünf
Jahren inuner wiedcrholte Behauptung, daß uns die Fran-
zosen in Sachen der Technik Vorbild sein müßten.
Albert Dresdner.
Vielleicht wegen der freundlichen Aufnahme, die das Dresd-
ner Publikum mehr als ein anderes der „Wahrheit" bereitet
hatte, wurde das neueste Stück von Paul Heyse, das Lust-
spiel „Ein unbeschriebenes Blatt", in Dresden noch eher auf-
geführt, als auf dem Berliner Lessingtheater — aber Kritik
und Zuschauer bereiteten diesmal dem Dichter eiue Enttäusch-
ung. Uns wird geschrieben:
Das Stück, das einen entschieden lehrhaften Zug trägt,
soll, wie das Schauspiel „Währheit" uns des Verfassers An-
sichten uber den Wert der Wahrheitsliebe und der rücksichts-
losen Offenheit im gesellschaftlichen Verkehr entwickelte, des
Dichters Anschauuugeu über die Frauenfrage, so weit sie im
Gebiete der Mädchenerziehung zur Geltuug kommt, in einer
Reihe von Szenen zur Darstellung bringen. Wenigstens muß
man dies als die Hauptabsicht des Dichters vermuten, wenn
auch die Anlage des Stücks so verworren uud unklar ift, daß eiu
Bild defsen, was Heyse wollte, nicht hervorspringt. Jedenfalls
stellt er zwei Mädchencharaktere einander gegenüber, die schein-
bar in grellem Wiederspruch zu eiuander sich befindeu: ein
Mädchen, das trotz der Enge des orthodoxen Hauses, in dem
es aufgcwachsen, sür Freiheit des Weibes und Ungebundenhcit
— s —.